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Terroir

Terroir

Titel: Terroir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Heymann-Loewenstein
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chemischen Weinanalyse haben kulturelle Visionen des Winzers keinen Platz. Aber die Vorstellung der Verknüpfung der vielen Aspekte von Terroir mit dem Ring i erlaubt es, diese und viele andere Aspekte von Terroir in einen sinnvollen Zusammenhang zu stellen und als unterschiedliche Aspekte ein und desselben Phänomens zu begreifen.
    Einige Jahrzehnte später, in den 80 er-Jahren, kamen die entscheidenden Impulse aus der Mathematik. Durch die Entwicklung von Computern mit immer größeren Rechenleistungen konnten erstmalig in der Menschheitsgeschichte enorm komplizierte Rechenoperationen ausgeführt werden. Auch extrem große oder kleine Zahlen waren immer weniger problematisch. Im Vergleich zu den Zeiten Newtons war es für die Wissenschaftler nun nicht mehr notwendig, aus handwerklichen Gründen alle Naturbeschreibungen auf einfache Formeln zu reduzieren. Was für eine Entwicklung von den Pythagoräern mit ihrer Idee, die Welt als ganzzahliges Vielfaches der Zahlzwei darzustellen, bis hin zu hoch komplizierten Formeln heutiger Wissenschaftler zur Simulation der Klimaentwicklung! Gerade hier stellte sich heraus, dass es oftmals kleinste Abweichungen in der Formel sind, die das Ergebnis in eine völlig andere Richtung laufen lassen. Und dass es Formeln gibt, die aufgrund ihrer Komplexität keine eindeutige Aussage über das Ergebnis erlauben. Eine beliebte Metapher zur Illustration der unglaublichen Komplexität mathematischen Formeln der Chaostheorie in der Wettervorhersage ist der Schmetterling im Urwald Brasiliens, der durch seinen Flügelschlag den entscheidenden Impuls dazu gibt, dass im chinesischen Meer ein Taifun entsteht.
    Die grafischen Darstellungen dieser hoch komplexen Formeln sind, wie die Wissenschaftler versichern, von einer enormen Ästhetik geprägt, sodass in der Chaosforschung immer wieder von der „Schönheit der Grenzen“ gesprochen wird. Schachbrettartig schön ordentlich nebeneinander gelegte Sandkörner sind langweilig. Ein zufällig aufgeschütteter Sandhaufen ist ein Chaos. Aber dort, wo sich Ordnung und Chaos begegnen, beim hoch komplexen Gebilde einer Wanderdüne, entsteht eine übersinnliche Schönheit. Hier gibt es keine Perfektion, nichts ist fertig, alles in Bewegung. Und doch ist das alles andere als ein Chaos, denn alle Sandkörner scheinen einer komplizierten, geradezu göttlichen Ordnung zu folgen.
    Lassen wir uns auf das Gedankenspiel ein, dass es sich mit Terroirweinen genauso verhält, dass auch hier die Faszination aus dem Grenzbereich zwischen Perfektion und Chaos resultiert, dass auch hier die höchste Komplexität im Bereich der Übergänge anzutreffen ist. Es ist verblüffend festzustellen, dass fast alle traditionellen Weinbauregionen tatsächlich in klimatologischen und geologischen Übergangszonen liegen. In Bordeaux trifft die Hitze des Südens mit der Kälte des Atlantiks zusammen, im Weinberg begegnen sich fetter Tonund karger Kies. Die großen Burgunder reifen zwischen mediterranem und kontinentalem Klima, zwischen Fluss und Berg, Schwemmland und Böden aus Kalkfelsen. Und an der Klimagrenze des kalten Nordens reifen in den Tälern von Donau, Rhein und Mosel an steilen Hängen zwischen Wasser und Felsen Eleganz und subtile Finesse.
    Auch die Vinifikation eines Terroirweins vollzieht sich entlang von Grenzen, ganz besonders im Übergangsbereich von Handeln und Geschehenlassen. Nur so entstehen Weine mit hoher Komplexität. Um einen großen Wein entstehen zu lassen, muss der Winzer permanent sein eigenes Sicherheitsdenken überwinden und der Eigendynamik der Natur vertrauen. Aber er muss auch genau wissen, wann sein Eingreifen notwendig ist. Es ist wie beim Töpfern, bei dem das Faszinierende, wie der Künstler Joan Miró formulierte, gerade darin liegt, zuerst den Ton zu bearbeiten, um ihn dann im Brennofen den Elementen zu überlassen.
    Letztlich ist auch das Genießen eines großen Weins eine Grenzerfahrung. Terroirweine helfen, die uns bekannten Normen zu überwinden, und erlauben uns damit, Dinge zu schmecken, die der „ordentlichen“ Welt verschlossen sind. Sie faszinieren, weil sie eben nicht eindeutig sind, weil sie uns immer ein wenig verunsichern, provozieren: Ist es der Boden, ist es der Jahrgangscharakter oder die typische Handschrift des Winzers? Und was ist das, was man da sonst noch schmeckt? Der Weinberg oder meine sich selbst erfüllende Prophezeiung? Der Wein selbst oder meine Projektion?
    Einen Palace of Living Wine hat die Weinszene noch nicht

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