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Terroir

Terroir

Titel: Terroir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Heymann-Loewenstein
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zu bieten. Ein Wachsfigurenkabinett, in dem Egon Müller II. gerade eine Flasche 1921 er Scharzhofberger feinste Auslese in Gläser ausschenkt. Im Hintergrund ein Film über die Weinlese sowie Gesteinsproben aus dem Scharzhofberg, die mit einem automatischen Hammer auf Knopfdruck zerkleinert werden und deren feiner Schieferduft miteinem Ventilator im Raum verteilt wird. Die 1921 er Auslese kann probiert werden. Nicht als Original, aber als eine mithilfe der Firma Enologix hergestellte Kopie, die aufgrund gaschromatografischer Analysen und Rückrechnung der chemischen Alterungsprozesse viel frischer und aromatischer im Glas steht als das doch mittlerweile schon etwas altersmüde Original im Keller in Wiltingen.
    Bislang müssen wir uns, was derart „erhabene Emotionen betrifft“, wie es Umberto Eco in einem Reisebericht so schön formuliert, mit dem Palace of Living Art begnügen. Hier, knappe zwei Autostunden südlich von Los Angeles, ist in einem „Originalatelier“ nicht nur ein über dem fertigen Porträt seiner Mona Lisa sinnierender wächserner Leonardo da Vinci zu bewundern, sondern darüber hinaus eine porträtstehende Gioconda höchstpersönlich, die – nach Jahrhunderten der Neugierde endlich die Frage nach der Schönheit ihres Hinterteils beantwortend – tausenden Besuchern einen weitaus größeren Kunstgenuss bietet als das popelige Original im Pariser Louvre.
    Geschenkt der ganze Unsinn, den Kunsthistoriker in dieses kleine Bild hineininterpretiert haben. Um sie nach der Geburt ihres Kindes mit einem Porträt zu ehren, hat der Kaufmann Francesco del Giocondo, ganz wie in den besseren Florentiner Kreisen damals üblich, ein Porträt seiner Lisa in Auftrag gegeben. Punkt. Von wegen „maltechnisches Experiment“, „homosexuelles Selbstbildnis“, „syphilitische oder schwangere Frau“, „halbseitige Gesichtslähmung“, „Femme fatale“. Und was soll das heißen: „indifferent“, „permanent oszillierend zwischen männlich und weiblich, zwischen jung und alt, zwischen schön und hässlich“? Dank der herausragenden Inszenierung durch das kalifornische Museum kennen wir die Wahrheit: Lisa war jung, schön und hatte einen knackigen Hintern.
    Zurück zum Wein aus einem Palace of Living Wine: Wie fühlt es sich an, die perfekte Reproduktion eines 1921 er Scharzhofbergers imGlas zu haben? Einen Blick auf das gaschromatografisch dargestellte Aromenspektrums eines 1990 er Spätburgunders aus dem Centgrafenberg von Paul und Monika Fürst zu werfen? Den Ausdruck der Analysedaten einer 1971 er Hermannshöhle Auslese vom Weingut Dönnhoff in der Hand zu haben? Ganz interessant. O. k. Und dann?
    „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Diese Aristoteles zugeschriebene Aussage gewinnt im modernen Wissenschaftsbetrieb immer mehr an Bedeutung. Das als Emergenz bezeichnete Phänomen steht im fundamentalen Gegensatz zum deduktiven Denkansatz der letzten Jahrhunderte, nach dem man durch die Beschreibung der einzelnen Puzzleteilchen das ganze Bild erklären kann. Vielen Naturwissenschaftlern bereitet solches Denken immenses Bauchgrimmen, andere freuen sich, endlich das, was man schon immer gefühlt hat, in einen wissenschaftlichen Kontext setzen zu können und damit in Diskussionen nicht als esoterischer Spinner zu gelten. Ob in den Sozialwissenschaften („Das Verhalten einer Gruppe lässt sich nicht aus dem Verhalten der Individuen hochrechnen“) oder der Biologie („Eine Zelle ist noch kein Tiger“). Ob in der Physik, in der Betriebswirtschaft oder in der Neurologie. Und auch der Wein hat aus diesem Blickwinkel als hoch komplexes System eine enorme Emergenz. Vielleicht sollte man einem einfachen, mit industriellen Methoden hergestellten Wein eine schwache Emergenz zuschreiben. Schon jetzt ist ja die Forschung in der Lage, solche Weine weitgehend wissenschaftlich reproduzierbar zu definieren. Das sieht bei Terroirweinen anders aus: Egal was wir bei einem Wein analysieren und beschreiben: Das Glas bleibt gefüllt mit Überraschung. Niemand kann sagen, wie sich der Wein heute, in diesem Raum, in diesem Glas präsentiert. Sich dem Wein hingeben, sich verführen lassen, die Vielschichtigkeit, die Komplexität eines großen Terroirweins zulassen heißt auch, mit seinen Geheimnissen zu leben. So schön und interessant Erklärungen und exakte Beschreibungen auch sind, sie können immer nur einige Phänomene der Oberfläche abbilden. Wie viel spannender und genussvoller ist das Surfen zwischen den

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