Terror
fort.
Vor allem das Kreischen macht Crozier zu schaffen und reißt ihn manchmal aus dem tiefen Schlaf, von dem er ohnehin jede Nacht höchstens eine Stunde bekommt. Es klingt so sehr nach
den Schreien seiner Mutter in ihren letzten Tagen … und es erinnert ihn an die Geschichten seiner alten Großmutter über die Banshees, die mit ihrem heulenden Wehklagen den Tod eines Menschen im Haus ankündigen. Beides hat ihm schon als Junge den Schlaf geraubt.
Langsam dreht sich Crozier um. Seine Wimpern sind bereits mit Eis bedeckt, und seine Oberlippe ist verkrustet von gefrorenem Atem und Rotz. Die Männer haben gelernt, den Bart unter den Schal und den Pullover zu stecken. Dennoch bleibt ihnen oft nichts anderes übrig, als an der Kleidung festgefrorene Haare abzuschneiden. Wie die meisten Offiziere hat Crozier daran festgehalten, sich jeden Morgen zu rasieren. Da jedoch mit der Kohle gespart werden muss, ist das »heiße Wasser«, das ihm der Steward bringt, meistens kaum mehr als getautes Eis, und die Rasur wird leicht zu einer ziemlich schmerzhaften Angelegenheit.
»Ist Lady Silence noch an Deck?«, erkundigt sich Crozier.
»O ja, Sir, sie ist fast immer hier oben.« Hickey flüstert, als dürfte er das nicht laut sagen. Doch selbst wenn Silence sie hören könnte, würde sie ihre Sprache nicht verstehen. Die Männer glauben – und dieser Glaube wird immer stärker, je länger sie von dem Wesen auf dem Eis verfolgt werden –, dass die junge Eskimofrau eine Hexe mit geheimen Kräften ist.
»Sie ist drüben am Backbordposten bei Leutnant Irving«, ergänzt Hickey.
»Leutnant Irving? Seine Wache ist doch schon seit über einer Stunde vorbei.«
»Stimmt, Sir. Aber wo Lady Silence ist, da ist in letzter Zeit meist auch der Leutnant, wenn ich das so sagen darf, Sir. Geht sie nicht unter Deck, geht er auch nicht unter Deck. Das heißt, bis er dann doch muss … Keiner von uns hält es so lange hier draußen aus wie diese He… diese Frau.«
»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten und behalten Sie das Eis im Auge, Mr. Hickey.«
Croziers scharfer Ton lässt den Kalfaterersmaat erneut zusammenfahren. Mit einem kurzen Schlurfen deutet er den üblichen Gruß an und kehrt die weiße Nase wieder der Dunkelheit jenseits des Bugs zu.
Crozier stapft über das Deck in Richtung Backbordausguck. Nach drei Wochen trügerischer Hoffnung auf ein Entrinnen im August hat er im vergangenen Monat das Schiff winterfest machen lassen. Wieder hat er Befehl gegeben, die unteren Rahen zur Längsachse des Schiffs zu brassen, um sie als Firstbalken zu verwenden. Dann wurde mit den Spieren, die während der zuversichtlichen Wochen unter Deck verstaut worden waren, erneut das pyramidenartige Zelt über den größten Teil des Hauptdecks gespannt. Doch obwohl die Männer jeden Tag stundenlang damit beschäftigt sind, Wege durch den knietiefen, als Wärmeschutz auf dem Deck belassenen Schnee zu schaufeln, das Eis mit Picken und Meißeln wegzuhacken, den unter dem Segeltuch entstandenen Nebel zu vertreiben und Sandstrecken für besseren Halt auszustreuen, bleibt immer eine dünne Eisschicht liegen. So geraten Croziers Bewegungen auf dem krängenden Deck manchmal eher zu einem anmutigen Gleiten.
Für diese Wache ist der Schiffsjunge Tommy Evans als Posten eingeteilt. Crozier erkennt den jüngsten Mann an Bord an der lächerlichen grünen Pudelmütze, die ihm offenbar seine Mutter gestrickt hat und die er sich immer über seine unförmige Welsh Wig stülpt. Evans hat sich zehn Schritt nach achtern begeben, offenbar damit der Dritte Leutnant Irving und Silence ein wenig für sich sein können.
Bei diesem Anblick würde Kapitän Crozier am liebsten irgendjemandem – oder auch gleich allen – einen kräftigen Tritt in den Hintern versetzen.
In ihrem Kapuzenanorak und ihren Pelzstiefeln wirkt die Eskimofrau wie ein kleiner rundlicher Bär. Dem großgewachsenen Leutnant hat sie halb den Rücken zugekehrt. Irving steht sehr
dicht neben ihr am Schanzkleid – zwar ohne sie zu berühren, aber doch näher, als ein Offizier und Gentleman einer Dame bei einem Gartenfest oder auf einem Vergnügungsschiff kommen sollte.
»Leutnant Irving.« Eigentlich wollte Crozier den Gruß nicht so herausbellen, aber er ist auch nicht unglücklich darüber, dass der junge Mann hochfährt, als hätte man ihn mit der Spitze eines scharfen Degens angestoßen, und fast das Gleichgewicht verliert. Mit der linken Hand hält er sich am Schanzkleid fest und
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