Tessy und die Hörigkeit der Malerin - 1
Augen. Einen Moment herrschte Stille. Auf einmal spürte sie Kerstins Hand auf ihrer Schulter. Sie schlug die Augen wieder auf.
„Ich hab’ einen Job für dich“, sagte die Freundin.
„Tatsächlich?“ Tessy war über den abrupten Themenwechsel ein wenig irritiert.
„Du findest heraus, was genau mit Patrick passiert ist, und welche Geschichte hinter all dem steckt.“
„Wie bitte?“ Tessy richtete sich wieder auf.
„Ja, du hast richtig gehört, und warum denn nicht? So groß ist der Unterschied zu deiner bisherigen Arbeit doch gar nicht: Du recherchierst nur nicht für eine Zeitung, sondern für mich, in meinem Auftrag, als, ja: Privatdetektivin, ganz genau! Und selbstverständlich für ein anständiges Honorar. Wie hört sich das an?“
Tessy lachte kurz auf und winkte ab, dann hielt sie inne. Kerstin meinte ihren Vorschlag ernst.
„Oder hast du inzwischen was anderes in Aussicht? Im Lotto gewonnen? Eine Kiste Gold in Edgars Garten entdeckt, von der ich noch nichts weiß?“
„Nein“, wehrte Tessy ab. „Natürlich nicht, aber …“
„Oder will dein Chefredakteur dich zurückhaben, weil ihm klar geworden ist, dass er eine gute Journalistin verloren hat? Eine, die sich nicht beirren ließ, nach dem zu forschen, was tatsächlich geschehen ist.“
„Nein, will er nicht. Ich war ihm schon immer zu forsch – in mancherlei Hinsicht.“ Tessy räusperte sich.
„Und außerdem hast du doch längst die Nase voll von diesem Geschäft – egal, bei welchem Blatt, egal, unter welchem Chefredakteur! Wie oft hast du dich in den letzten Jahren aufgeregt?’“
„Na ja … Da stimmt schon …“ Tessy runzelte die Stirn. „Aber …“
„Kein Aber! Vielleicht solltest du deine Ermittlungsfähigkeiten in einer anderen Branche einsetzen. Ich gebe zu, dass mein Vorschlag für den Moment alles andere als uneigennützig klingt, aber das allein sollte nicht gegen meine Idee sprechen. Vielleicht wird ja sogar eine langfristige Sache daraus.“ Kerstin lächelte aufmunternd. Dann wurde sie wieder ernst. „Ich bin davon überzeugt, dass Patrick sich nicht umbringen wollte, und ich will wissen, was passiert ist. Ich denke, du verstehst mich, außerdem geht es dir doch ganz ähnlich.“ Sie sah Tessy fragend an.
Die nickte langsam.
„So lange die Polizei keine weiteren Hinweise hat, wird sie nicht mehr ermitteln und von Suizid ausgehen – das ist Fakt“, fuhr Kerstin fort. „Aber wenn du dich dahinter klemmst, und das kannst du sehr gut, und neue Ansatzpunkte entdeckst …“ Sie schürzte die Lippen.
„Und wenn ich nichts entdecke?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Und wenn ich etwas entdecke und sich herausstellt, dass es doch eine Verzweiflungstat war?“
„Dann werde ich es akzeptieren. Aber erst dann.“
Tessy atmete tief durch – was für eine Idee! Andererseits … Die nächste Frage, die ihr sofort durch den Kopf schoss, würde Kerstin nicht schmecken, aber sie musste sie stellen. „Geht es auch um Patricks Lebensversicherung?“
Die Freundin nickte. „Um die geht es auch. Ich muss dir kaum erörtern, dass sie bei Suizid nicht zahlen, aber ich versichere dir, dass ich dir genau den gleichen Vorschlag gemacht hätte, wenn es dieses Geld nicht gäbe.“
Das klang überzeugend.
„Also – wann kannst du anfangen?“
Im Grunde genommen hatte sie längst angefangen. Ihr Block war voller Notizen und Anmerkungen, und sobald sie Fragen zu den Ereignissen zuließ, drängten sie so schnell aus ihr heraus, dass sie mit dem Formulieren kaum nachkam. Was sie noch benötigte, war eine Gewerbeanmeldung und Visitenkarten. Ja, warum eigentlich nicht?
Kerstins Idee gefiel ihr außerordentlich gut, die dargelegten Argumente waren stichhaltig, die Aufgabe hatte es ihr längst angetan, und der Fall lag ihr natürlich am Herzen. Privatdetektivin Tessy Ritter. Oder auch: private Ermittlerin. Das hörte sich gut an, ein bisschen abenteuerlich vielleicht, aber auch das passte zu ihr. Ihre Mutter würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Mal wieder. Wenn das kein gutes Omen war.
6
Maren Wildorn war nach Kerstins Beschreibung eine eiskalte Geschäftsfrau, die nur ein Interesse verfolgte: ihre Karriere. Sie sei eine begnadete Mobberin, die Leute ohne mit der Wimper zu zucken ins berufliche Aus oder Abseits kicke oder eben auch in den Alkoholismus treibe. So jedenfalls hatte Kerstin Patricks Standpunkt wiedergegeben, und sie ließ kein gutes Haar an der Frau. Diese
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