Tessy und die Hörigkeit der Malerin - 1
sich in der Fischerbucht getroffen, um den Sonnenuntergang zu betrachten und ein bisschen zu reden. Über Deutschland zum Beispiel. Über Abschiede. Das Leben an sich und im Besonderen. Sie waren Freunde geworden. Ein großes Wort, aber in dem Fall angemessen. In letzter Zeit hatte Moritz oft gehetzt gewirkt oder wie jemand, der etwas vergessen wollte. Eine Geliebte vielleicht oder seine Frau, die er vor Jahren verlassen hatte, wie Anita wusste. Sie hatte nie nachgefragt. Das war ein Fehler gewesen, wie sie im Nachhinein feststellte.
Anita hatte schon häufiger miterlebt, dass Touristen Magen- und Darmbeschwerden bekamen; auch eine Lebensmittelvergiftung kam hin und wieder vor, aber Moritz hatte es ungemein übel erwischt. Sie sorgte dafür, dass er ins Krankenhaus kam, wo er tagelang kaum ansprechbar war. Dann ging es allmählich wieder bergauf. Er war nicht mehr ganz so bleich, und er freute sich, sie zu sehen, nicht nur weil sie daran dachte, ihm seine Post mitzubringen, darunter auch ausgedruckte Mails. Eine Nachricht von einem Freund schien ihn erst zu erstaunen, dann nachdenklich zu stimmen und schließlich regelrecht zu beglücken. Anita konnte sich noch genau an seinen Gesichtsausdruck erinnern. Bevor sie ging, bat Moritz sie, seinem Freund in Berlin telefonisch von seiner Erkrankung zu berichten, ihm zu bestellen, dass er bald von ihm hören würde, und einige bereits fertig verpackte Sendungen zur Post zu bringen. Sie versprach ihm, sich sofort darum zu kümmern.
Drei Tage später war er tot. Akutes Herz- und Kreislaufversagen. Da sie nicht zur Familie gehörte, konnte Anita froh sein, überhaupt eine Auskunft zu erhalten. Ein junger übernächtigter Assistenzarzt erbarmte sich schließlich ihrer entsetzt fragenden Augen und bat sie, dafür im Gegenzug Kontakt mit der Familie in Deutschland aufzunehmen. Kurz darauf begleitete eine Krankenschwester sie zum Parkplatz und deutete unter dem Mantel der Verschwiegenheit an, dass Moritz unter Umständen ein falsches Medikament bekommen haben könnte. Aber die Schwester schien ihr nicht besonders vertrauenswürdig – eher ein Tratschweib, das sich wichtig machen wollte. Als sie am gleichen Tag in Moritz Haus nach dem Rechten sah und Spuren eines Einbruchs bemerkte, gab ihr der Hinweis jedoch zu denken.
Es waren nur Kleinigkeiten, die wohl kaum jemandem aufgefallen wären, aber Anita war aufmerksam und hatte ein geschultes Auge. Sie wusste, ob ein Fenster angelehnt gewesen war oder nicht, der Bürostuhl auf eine andere Höhe eingestellt und der Inhalt von Schubladen umsortiert worden war. Dass sich jemand an Schreibtisch und PC zu schaffen gemacht hatte, war offensichtlich – sie kannte sich in Moritz kleinem Büro gut aus und war das letzte Mal dort gewesen, als sie die Post weggebracht und die Einlieferungsscheine in den Ablagekorb gelegt hatte. Die befanden sich nun in einer Schublade. Sie zögerte nur einen Moment, dann schaltete sie den PC wieder aus und stieg auf den Dachboden.
Während eines ihrer vertrauensvollen Gespräche hatte Moritz ihr mal erzählt, dass er ein ziemlicher Kindskopf und schon immer ein leidenschaftlicher Geheimniskrämer gewesen sei. So würde er seine Tagebücher in einer alten Wäschetruhe unter dem Dach aufbewahren. Damals hatte sie über diesen Spleen geschmunzelt und war über seine Offenheit angenehm berührt gewesen. Nun kamen ihr plötzlich ganz andere Gedanken.
Der Zugang zum Dach war gar nicht so einfach zu finden. Anita entdeckte die Luke schließlich im Vorratsraum, wo sich hinter einem Regal auch eine Leiter befand. Die Truhe stand zwischen alten ausrangierten Möbeln und fiel nur ins Auge, wenn man nach ihr Ausschau hielt. Plötzlich hatte Anita es sehr eilig. Schweiß lief ihr den Rücken hinab. Sie blinzelte im trüben Dämmerlicht und hob den Deckel an, der sich, wie ihr schien, nur ungern bewegen ließ. Die Tagebücher waren zusammen mit anderen Papieren in einen Umschlag aus brüchigem Leder gehüllt und lagen unter einem Stoß Fotoalben und Aktenordnern begraben. Anita nahm sie an sich und verließ umgehend das Haus.
5
Sie fuhr schnell – fast dreißig Kilometer in der Stunde. Das Mountainbike flitzte mit summenden Reifen mühelos über den Mauerweg; Krähen staksten über ein brachliegendes Feld und wurden von einem wild tösenden Hunderudel aufgescheucht. Blitzblauer Himmel. Sprießendes Grün. Nach den vielen trüben Regenmonaten ein Genuss. In dem Tempo benötigte Tessy bis Lichtenrade gerade mal
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