Teufels Küche
Bundesrepublik hatten sich die Umgangsformen in der Politik wie im normalen Alltag geändert. Genau wie im richtigen Fernsehen hatten sich auch im alltäglichen Leben die Verhaltensmuster verschoben, war aus der dem Kleinstadtgefüge verbundenen Verschämtheit die zeitgemäße, unbehauste Unverschämtheit geworden.
»Willst Du was tun, oder fehlt dir nur diese Trophäe im Lebenslauf?« hatte ich meinen ältesten Freund gefragt. Er hatte mich völlig bestürzt gemustert und beteuert: »Da muß sich was ändern! Die Stadt ist pleite, die Spielplätze versiffen, die ganze Leier, und ich werde was tun.«
Au fein, dachte ich, ich wollte immer schon mal die Theorien des Feuilletonisten in der Praxis ausprobieren. Aber meine Ideen für sein Wahlprogramm hielt er für idiotisch. Also drückte ich ihm mein zerfleddertes Flohmarktexemplar der vergriffenen Gebrauchsanweisung Unsere Stadt muß sauber werden von Ross Thomas in die Hand. (Schließlich habe ich alles, was ich über Politik weiß, bei diesem Mann gelernt! In The Fools in Town are on Our Side machen Lucifer C. Dye und Homer Necessary beispielsweise vor, wie man eine Stadt übernimmt.)
Aber mein ältester Freund wollte es lieber auf anständige Art machen, wie er sagte. Also mietete er einen Bauwagen und fuhr an Wochenenden über die Dörfer, um mit den Leuten zu reden, die diesen Mann aus dem Ministerium gar nicht mehr erkannten und deshalb auch nicht mit ihm reden wollten, noch mit seinen mitgereisten Kindern, allenfalls mit seiner hübschen, zahm dreinlächelnden Frau. Natürlich verlor er kläglich, das schlechteste Ergebnis seit Neugründung der Ortsgruppe. Sein Konkurrent, der auf anständige Art gewonnen hatte, wurde drei Monate später von seinem Parteifreund und lautesten Unterstützer im Wahlkampf mit ein paar alten Geschichten und unüberprüfbaren Gerüchten geschaßt. Er gründete kurzfristig eine eigene Partei, die hielt so lange wie das Freibier der Informationsveranstaltungen. Seitdem geht der Mann, der drei Monate Bürgermeister dieser ziemlich kleinen Kleinstadt gewesen war, am liebsten im Wald spazieren, mit seinem Hund, den er da neuerdings von der Leine läßt.
Ich glaube, mein ältester Freund hatte nur Angst davor, was passiert, wenn einer den Deckel aufmacht über den Abgründen einer ziemlich kleinen Kleinstadt. Solche Angst haben die Akteure in den Büchern von Ross Thomas natürlich nicht. Im Gegenteil, den Deckel aufzumachen ist ein beliebter Eröffnungszug im Spiel der politischen Interessen und Intrigen.
Während er vom Urwaldrand auf die Lichtung hinausspähte, stellte der 60-jährige Terrorismusexperte fest, daß die Welt doch weitaus trügerischer und gefährlicher ist, als er je vermutet hatte.
Interessiert Sie, wie man eine Wahlkampagne klaut? Oder eine Gewerkschaft? Wollen Sie wissen, wie man eine Stadt korrumpiert und anschließend in seinen Privatbesitz bringt?
Soviel Offenheit gefällt nicht jedem, und so schrieb ein Kritiker der FAZ tatsächlich 1996: »Der Autor variiert ein Menschenbild, das gern realistisch genannt wird, weil es den Allerweltszynismus bestätigt. Was geschieht, geschieht aus Gier oder aus Rachsucht. Anstand ist Mangel an Gerissenheit und erhöht die Wahrscheinlichkeit eines unnatürlichen Todes.« (Michael Allmeier, 18. 4. 1996)
Vielleicht ist es doch kein Wunder, daß man in früheren Jahrzehnten als Ross-Thomas-Leser meistens ziemlich unter sich war.
Das Leben ist bei Thomas, wie es ist, und nicht, wie man es gern hätte. Natürlich hantiert der Autor gern mit Klischees, aber erstens erhöhen sie das Tempo, und zweitens stimmen sie ja meist. Ja, seine Personen sind schon etwas waghalsig angelegt manchmal – als letzter Anwärter auf den chinesischen Kaiserthron wie Artie Wu in Umweg zur Hölle oder als letzter Kannibale Amerikas wie Morgan Citron in Teufels Küche. Und daß seine Liebste die ehemalige Inzestpartnerin ihres Vaters ist und seine Mutter eine skrupellose Gangsterin – geschenkt! Dafür sind sie am Ende ja auch beide tot, und Morgan Citron und Velveta Keats sonnen sich auf Sri Lanka. (»Wer, um alles in der Welt, bringt es nur fertig, ein Kind Velveta zu nennen?« – »Fondue-Fans.«)
Natürlich sind auch die Guten perfide, aber, mein Gott, wie sollen sie sich sonst in einer perfiden Welt zurechtfinden? Und die Ausputzer verhalten sich stets schlüssig, denn eins hat Ross Thomas von Chandler und Hammett gelernt: Die Akteure brauchen Gründe für das, was sie tun.
Auf jeden Fall
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