Teufelsengel
Weltreligionen.
Etwas war sonderbar. Dass es nämlich kaum Schminkzeug gab. Keinen Spiegel. Nichts, was darauf schließen ließ, dass dieses Mädchen auf sein Äußeres bedacht gewesen war.
Romy öffnete den Kleiderschrank und runzelte verwundert die Stirn. Kein einziges helles, buntes Kleidungsstück. Überwiegend Schwarz und Grau und wenn überhaupt andere Farben, dann in ihrer dunkelsten Schattierung. Nachtblau. Rostrot. Tannengrün.
Ebenso überraschend wie die düstere Farbpalette waren die Kleidungsstücke an sich. Romy fand nur Hosen und Pullis. Es gab keine Röcke, keine Kleider und keine Blusen.
Unisex, dachte Romy, die selbst gern Hosen trug, die meisten davon schlabberig, bequem und modern. Diese hier jedoch waren geschnitten wie Businesshosen, streng, zeitlos. Zu beinah jedem Anlass passend.
Außer zum Wohlfühlen, dachte Romy.
Aber Alice war doch Assistentin in einer Tanzschule gewesen.
Wo waren ihre Röcke?
Das Weibliche?
Die verführerische Note?
Alles ist genau so, wie es war, als Alice noch lebte.
Als Nächstes bemerkte Romy die sterile Ordnung in dem Schrank. War sie das Werk von Frau Kaufmann oder hatte tatsächlich Alice sämtliche T-Shirts und Slips so exakt gefaltet?
Je länger Romy sich umschaute, desto mehr Widersprüche fielen ihr auf und desto weniger greifbar wurde das tote Mädchen für sie.
Der Inhalt dieses Schranks passte nicht zu diesem Zimmer.
Seltsam, dachte Romy und kniff die Augen zusammen. Ihr war noch etwas aufgefallen. Nirgendwo hatte sie Schmuck gesehen. Der Muranoring zählte nicht, der lag nicht umsonst im Regal. Vielleicht war er eine Erinnerung, vielleicht diente er bloß zur Dekoration, aber Romy war sich sicher, dass Alice ihn nicht getragen hatte.
Alice hatte schöne Dinge gemocht, die Bilder, die sie gemalt hatte, zeugten von ihrer Freude an Farbe und Form, wieso gab es dann hier kein hübsches Tuch, keine Haarspange, kein einziges modisches Accessoire?
»Ihr Lieblingsplatz war der Pavillon«, sagte da Frau Kaufmann hinter ihr und hob beschwichtigend die Hand, als Romy erschrocken zu ihr herumfuhr. Sie hielt ihr einen Becher hin, aus dem köstlicher Kaffeeduft strömte. »Möchten Sie ihn sehen?«
Romy nahm den Becher und nickte. Sie trank einen Schluck und folgte Frau Kaufmann mit dem Kaffee in der Hand die Treppe hinunter, sorgfältig darauf achtend, nichts zu verschütten.
Im Garten roch es nach Winter und nach dem Rauch, der aus den Schornsteinen stieg. Der Rasen hatte sich mit Nässe vollgesogen. Unter den Tannen, die das Grundstück auf der einen Seite begrenzten, lag noch ein kümmerlicher Rest von Schnee. Es war absolut still. Man hörte nur die schmatzenden Schritte auf dem Gras.
Der Holzpavillon musste irgendwann einmal strahlend weiß gewesen sein und bestimmt hatte er zauberhaft ausgesehen. Inzwischen hatte sich die Farbe in einen unentschlossenen Gelbton verwandelt und blätterte an vielen Stellen ab. Die unteren Bretter hatten Grünspan angesetzt. Einige waren beschädigt und mussten dringend ausgetauscht werden.
Der verlassene Zufluchtsort einer Prinzessin.
Verwunschen.
Efeu und ausgeblühte Kletterrosen rankten an der Holzfassade entlang und hingen wie Vorhänge an den Fenstern hinunter. Auf einem prächtigen Spinnengewebe unter der Regenrinne glitzerte die Feuchtigkeit der vergangenen Tage.
Ein märchenhafter Ort. Kein Wunder, dass Alice ihn geliebt hatte.
Frau Kaufmann schloss die Tür auf, die sich nur ruckelnd öffnen ließ und dabei einen Ton von sich gab, der wie ein lang gezogenes Stöhnen klang.
»Verzeihen Sie, wenn ich Sie wieder allein lasse, aber ich schaffe es einfach nicht, diesen Raum zu betreten. Vielleicht, weil Alice mir immer das Gefühl gegeben hat, hier ein Eindringling zu sein.«
Romy nickte. Sie verstand jetzt, warum der Pavillon so verlassen wirkte.
Er war minimalistisch eingerichtet. Ein schwarzer Liegesessel, auf dem zusammengefaltet eine rote Wolldecke lag, eine Leselampe mit zwei Armen aus Chrom, die je eine milchige Glaskugel hielten, ein weißer Schreibtisch und davor ein Stuhl.
Alice war hier so stark spürbar, dass Romy meinte, sie berühren zu können, wenn sie nur die Hand ausstreckte.
Bücher lagen auf dem Schreibtisch. Ein Stapel unbeschriebenen Papiers. In einem Tontopf steckten eine Schere, ein Lineal und mehrere Stifte.
Ein Fernglas hing neben einem der Fenster.
Romy lehnte sich an die runde Holzwand und trank ihren Kaffee, der stark war und süß, genau nach ihrem Geschmack. Dabei
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