Teufelsengel
hatte Frau Kaufmann gar nicht gefragt, wie sie ihn haben wollte.
Romy kannte den Grund. Sie hätte jede Wette darauf abgeschlossen. Auch Alice hatte den Kaffee so getrunken.
Auf einmal war sie froh, ihre dicke Jacke an zu haben.
Das Licht spielte mit den Schatten.
Romy hörte sich selbst atmen.
Das hier, daran gab es für sie keinen Zweifel, war für Alice ein Ort des Glücks gewesen. Hier war sie für sich gewesen, allein mit dem Garten und dem Stück Himmel, das sich darüber spannte.
Romy stieß sich von der Wand ab. Es war Zeit, wieder zum Haus zurückzugehen. Doch einmal noch musste sie alle Einzelheiten des Raums in sich aufnehmen.
Sie sah den Staub auf dem Schreibtisch. Die Schmutzstreifen auf den Fensterscheiben. Die toten Fliegen auf dem Boden. Halb hatte sie sich schon umgedreht, als sie irritiert innehielt.
Ihr war bereits aufgefallen, dass die Fugen zwischen den Bodendielen unterschiedlich breit waren. Von draußen hereingetragene Steinchen hatten sich dort festgesetzt und kleine Stücke von Rindenmulch. Aus einer der Fugen beim Schreibtisch jedoch blitzte etwas anderes hervor, hell, winzig, kaum zu erkennen.
Neugierig machte Romy kehrt.
Es schien eine Stofffaser zu sein. Romy zupfte vorsichtig daran, fühlte jedoch einen Widerstand.
Eine Erinnerung zuckte durch ihren Kopf. An den Speicher eines der unzähligen Häuser ihrer Kindheit. Dort hatten Björn und sie sich ein geheimes Versteck eingerichtet, verborgen hinter einem losen Wandpaneel.
Und plötzlich wusste sie mit absoluter Sicherheit, was sie finden würde, wenn es ihr gelang, die Diele zu lösen.
Mit einem Kribbeln im Bauch sah sie sich nach einem geeigneten Werkzeug um. Und da war es. Ein Brieföffner, der zwischen den Büchern auf dem Schreibtisch lag.
Sekunden später hob Romy behutsam ein mit Blumenornamenten verziertes, in ein Baumwolltuch eingeschlagenes Tagebuch aus dem Versteck hervor. Und dann sah sie Frau Kaufmann über den Rasen kommen.
Romy überlegte nicht. Mit fliegenden Fingern drückte sie die Diele wieder fest, stopfte sich das Buch in den Hosenbund und zurrte den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Sie legte den Brieföffner auf den Schreibtisch zurück. Ein letzter Blick.
Alles in Ordnung.
Mit klopfendem Herzen sah sie Frau Kaufmann entgegen.
Sie war keinen Deut besser als Ingo.
Aber sie hatte einen Anfang gefunden.
Vero hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Jetzt war er müde und erschöpft. Seine Nerven lagen blank.
Er hatte noch nichts zu sich genommen, sein Zimmer noch nicht verlassen. Er hatte gefastet, gebetet und meditiert.
Die Meditation hatte ihm Bilder gezeigt, bei deren Anblick ihm das Blut gefroren war. Feuer. Fratzen. Schutt und Asche. Die Apokalypse.
Dann, endlich, Nebel, der das Grauen gnädig verhüllte.
Die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, war ungeheuerlich. Wie konnte ein einzelner, sündiger Mensch sie tragen? Tag um Tag und Jahr um Jahr?
Er durfte keinen derer, die ihm anvertraut waren, mehr verlieren. Zu viele hatte Satan ihm schon genommen.
Zu dir, Herr, erhebe ich meine Seele. Mein Gott, auf dich vertraue ich. Lass mich nicht scheitern! Lass meine Feinde nicht triumphieren! Denn niemand, der auf dich hofft, wird zuschanden. Zuschanden wird, wer dir schnöde die Treue bricht.
Und was war Pia im Begriff zu tun? Wollte sie dem Herrn die Treue brechen?
War sie davongelaufen?
Hatte sie dem Kloster und dem Glauben den Rücken gekehrt?
Mea culpa, dachte er. Meine Schuld. Ich hätte das vorhersehen, hätte sie aufhalten müssen. Ich habe die Zeichen nicht erkannt.
Er legte sich auf den Boden und streckte die Arme zur Seite. Die Kälte kroch ihm unter die Haut. Er ertrug es, ohne mit der Wimper zu zucken.
Herr, führe sie zurück zu mir.
Frustriert blickte Gregory Chaucer durch die Glaswand auf das hektische Treiben in der Redaktion. An manchen Tagen sehnte er sich dorthin zurück. Ihm fehlte das alles. Das Durcheinander. Das Miteinander. Das Gegeneinander. Die Termine und wie aus ihnen Texte entstanden. Er hatte das Gefühl, überhaupt nicht mehr vom Telefon wegzukommen und nur noch zu organisieren.
Romy Berner hatte frischen Wind in seinen Alltag gebracht. Er war selten einem so jungen Menschen mit einer solchen Begabung begegnet. Es bereitete ihm fast Beklemmungen, sich vorzustellen, wie gut sie erst am Ende ihrer Ausbildung sein würde.
Sie hatte sich nicht auf die übliche Weise beworben, keine Unterlagen geschickt, kein Abschlusszeugnis und keinen
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