Teufelsengel
beobachtet, keiner sie gestört? Oder hatte ein möglicher Augenzeuge ihr Treiben für einen übermütigen Streich gehalten und nicht ernst genommen?
Romy blickte sich aufmerksam um.
Etwas war anders an diesem Tatort.
Er war noch frisch.
Der Mord war erst vor neun Tagen geschehen.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr war schrecklich kalt. Die Kälte kroch ihr wie Gift durch die Adern.
Vor neun Tagen erst.
Romy spürte die Gegenwart des Toten. Die Anwesenheit seiner Mörder. Einen Teil ihrer bösartigen Energie.
Und sie spürte noch etwas. Eine Trauer, die ihr die Tränen in die Augen steigen ließ.
Aber sie war nicht hier, um sich durch ihre Betroffenheit lähmen zu lassen. Sie war hier, um ihre Arbeit zu tun.
Und um diesem Irren das Handwerk zu legen, dachte sie und zog ihr Diktiergerät aus der Tasche.
»Angenommen, die Toten sind von ihrem Mörder wirklich bestraft worden, was kann der Grund dafür gewesen sein? Haben sie jemanden erpresst? Verraten? Betrogen?
Vier völlig verschiedene Menschen. Vier völlig verschiedene Lebenshintergründe.
Und vier vollkommen unterschiedliche Todesarten.
Ein Täter, der Gott spielt und mit einer perversen Lust die Requisiten auswählt.
Alle Opfer hatten sich verändert. Alle hatten sich zurückgezogen. Alle hüteten ein Geheimnis (Auch Ingmar Berentz, da bin ich mir sicher. Vielleicht finde ich noch einen, der ihn gut genug kannte, um es zu bemerken.).
Alle waren auffallend viel unterwegs.
Wohin?
Romy schaltete das Diktafon wieder aus. Der Wind hatte gedreht und kam jetzt vom Wasser her. Er klatschte ihr feuchte Kälte ins Gesicht.
Nie mehr, dachte sie. Nie mehr werde ich unbefangen in ein Parkhaus fahren. Oder in einem See schwimmen. Ich werde nie mehr ohne Unbehagen im Stadtwald spazieren gehen oder eine Disko betreten.
Sie hatte etwas verloren, ohne dass ihr je bewusst gewesen wäre, es besessen zu haben.
Vertrauen.
Langsam wandte sie sich um und kehrte zu ihrem Wagen zurück. Irgendwo knackte ein Zweig. Sie wollte losrennen. Aber ihr Körper reagierte nicht. Sie schleppte sich dahin und ihre Glieder wurden immer schwerer.
Pia entschied sich für den Schuppen, der am weitesten von den übrigen Gebäuden entfernt lag. Er war aus Holz gebaut und ziemlich verwittert. Die ursprüngliche Farbe hatte sich in ein trockenes Silbergrau verwandelt. Efeu umspielte das kleine Fenster, dessen Glasscheibe blind war von Schmutz. Spinnweben hingen unter dem niedrigen Dach, über das die umgebenden Sträucher und Bäume schützend ihre Äste und Zweige gebreitet hatten.
Das perfekte Versteck.
Ganz kurz fragte Pia sich, warum sie sich überhaupt die Mühe machte, warum sie die Heimlichkeiten auf sich nahm.
Warum sie nicht einfach ging. Solange noch Zeit dafür war.
Dann schob sie die Fragen beiseite. Wie die meisten Fragen in den vergangenen Monaten.
Wer fragt, zweifelt.
Wer zweifelt, gerät auf Abwege.
Wer in die Irre geht, ist verloren.
Was Vero ihr vermittelt hatte, widersprach fast allem, was Pia in ihrem früheren Leben wichtig gewesen war. Sie hatte sich sehr bewusst für Philosophie als Studienfach entschieden. Sie hatte wissen wollen, was das ist - das Leben, die Liebe, der Tod. Sie hatte erfahren wollen, ob es auch nach dem Tod noch ein Leben gab.
Und Gott?
Ihr war klar gewesen, dass sie sich, was die Existenz Gottes betraf, auf den Glauben verlassen musste. Sie war dazu bereit gewesen.
Und sie hatte geglaubt. Innig und voller Hingabe.
Wann hatte das aufgehört?
Vero nannte es eine Krise.
»Selbst die Jünger haben gezweifelt«, hatte er sie getröstet. »Denk an Paulus. Oder sieh dir Petrus an. Er hat den Herrn sogar verraten. Nicht nur einmal, nein, gleich dreimal hintereinander.«
Man konnte aus einer Krise gestärkt hervorgehen. An diesen Gedanken hatte Pia sich geklammert. Sie tat es noch immer. Obwohl die Zweifel in ihr wuchsen.
Warum schaffte sie es nicht, alle und alles hinter sich zu lassen, in eine andere Stadt zu ziehen und von vorn anzufangen?
»Weil man kein neues Leben beginnen kann, bevor man mit dem alten fertig ist«, erklärte sie Snoop und drückte die altersschwache Klinke herunter, die so gar nicht zu dem massiven Riegel darüber passen wollte.
Erwartungsvoll schaute Snoop zu ihr auf.
Die Klinke quietschte, die Tür knarrte. Wie in einem Horrorfilm.
Pia schaute Snoop nach, der neugierig zwischen ausrangierten Blumenkübeln, verrosteten Fahrrädern und staubigen Möbelstücken verschwand. Zögernd folgte
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