Teufelsengel
überzogen. An der Mauer, die den Hof umschloss, rankte robuster Efeu, der seine Finger schon nach den abgestellten Sachen ausgestreckt hatte. Zwei nasse, verfilzte Teppiche, die zusammengerollt und mit Klebeband verschnürt in einer Ecke lehnten, waren bereits nur noch zur Hälfte zu sehen.
Der obere Rand der Mauer war mit aufgestellten Glasscherben beklebt. Um wen abzuhalten?, fragte sich Romy. Einbrecher etwa? Was gab es in dieser Gegend schon zu stehlen?
Sie schaute am Haus hoch. Über den Räumen der Disko schmucklose, nackte Fenster, kein Zeichen von Leben, nichts, was darauf schließen ließ, dass sich in diesen Zimmern jemand aufhielt.
Romy hatte die Tür zum Rainbow offen gefunden. Eine Putzfrau war damit beschäftigt gewesen, den Boden zu wischen. Romy hatte ihr erklärt, dass sie einen Artikel über Kölner Hinterhöfe schreiben wollte. Sie hatte sich gehütet, Alices Namen auch nur zu erwähnen »Is auf.«
Die Frau hatte gutmütig ins Innere des Saals gedeutet.
Romy war durch die düstere, schwarze Kulisse der Disko gegangen, die bei Tageslicht allen Glanz verloren hatte und nur noch wie ein trauriges, mieses Loch wirkte. Sie war froh gewesen, niemanden hier anzutreffen, der ihr Spiel durchschaut und sie wieder rausgeworfen hatte.
Und nun stand sie hier. Im Sonnenlicht fielen all die Scheußlichkeiten noch mehr ins Auge. Die durchweichten Zigarettenkippen. Das modernde Laub von den beiden Bäumen, die jenseits der Mauer standen. Eine tote Maus, die wie schlafend auf einem umgedrehten Blumentopf lag.
Von irgendwoher hörte Romy Topfklappern und Lachen. Der süße Duft von Gebackenem lag in der Luft. Und der Gestank von Urin.
Hier war Alice gestorben.
Jemand hatte ihr in dieser trostlosen Umgebung die Kehle durchgeschnitten.
Wie lange hatte ihr Todeskampf gedauert? War Alice mit ihrem Mörder allein gewesen? Hatten andere zugesehen? Mitgemacht?
Romy schaute an den Häusern empor. So viele Fenster. Auch in den umliegenden Häusern. Und dann gab es noch die Bediensteten in der Disko. Die Gäste.
Und niemand hatte etwas mitbekommen.
Laute Musik. Dunkelheit. Alkohol. Bewohner, die an grölende Diskogäste gewöhnt waren. Gar nicht so unvorstellbar, dass in einer finsteren Ecke des Hofs unbemerkt ein Mord geschehen konnte.
Natürlich war kein Blut mehr da. Auch die Kreidemarkierungen der Polizei waren längst verschwunden. Seit dem Tod des Mädchens waren Monate vergangen.
Romy ließ den Blick ein letztes Mal über den Dreck und das Gerümpel wandern. Was nachts hier ablief, war ein grandioses Spiel mit der Illusion. Und es funktionierte anscheinend so gut, dass das Rainbow seit Jahren zu den angesagten Diskos in Köln gehörte.
Die Welt ist ihr immer fremd geblieben.
Hatte Alice in dieser Umgebung versucht, das Fremde verstehen zu lernen? Oder brauchte sie ab und zu einfach eine Gegenwelt? Konnte die Assistentin eines Tanzlehrers sich hier endlich einmal spontan und ungezwungen bewegen?
Oder war sie gar nicht freiwillig hierhergekommen?
Diesmal nahm Romy den Weg durch das Treppenhaus. Wahrscheinlich war auch der Täter so verschwunden.
Ich bewege mich in den Fußspuren eines Mörders, dachte Romy.
Der Anblick des letzten Tatorts steckte ihr noch in den Knochen. Lange hatte sie auf dem Parkdeck gestanden und die Stelle angestarrt, an der Ingmar Berentz wieder und wieder überfahren worden war. Sie hatte die Brutalität und die Erbarmungslosigkeit des Mörders gespürt.
Genau wie hier.
Zu viel.
Sie beeilte sich, ins Freie zu gelangen.
Zu viele Gefühle. Zu viele Gedanken.
Draußen sog Romy hungrig die Luft ein. Hielt das Gesicht in die bleiche Wintersonne. Sie hatte keine Lust, noch zum Fühlinger See hinauszufahren. Wusste nicht, ob sie das aushalten würde.
Wie brachte man es fertig, einen Menschen zu ertränken? Und warum? Was hatte Thomas Dorau getan, um so getötet zu werden? Wieso …
Erregt blieb Romy mitten auf der Straße stehen.
Getan …
Das Wort fiel in ihr nieder und zog seine Kreise.
Was, wenn Thomas Dorau seinen Tod tatsächlich provoziert hatte? Wenn auch Alice, Mona und Ingmar ihren Mörder herausgefordert hatten?
Getan...
Konnte das das Bindeglied zwischen den Morden sein? Hatten die Toten etwas getan, für das sie … bestraft worden waren?
Romy spürte ihren Herzschlag. Fast konnte sie ihn hören.
Wie krank musste jemand sein, dass er sich anmaßte, Justiz zu üben? Und was, um alles in der Welt, hatte der Mörder den Opfern vorgeworfen?
»Kind, du
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