Teufelskanzel - Kaltenbachs erster Fall
Mann wäre ein guter Lehrer geworden, dachte Kaltenbach.
»Dabei gibt es markante Punkte in der Landschaft und markante Zeitpunkte im Jahreslauf. Bei unserem Belchen im Südschwarzwald kommt beides zusammen. Vom Elsass aus gesehen geht die Sonne am Frühlingsanfang genau hinter dem Belchen auf.«
Kaltenbach wurde hellhörig. Am Frühlingsanfang? Jetzt wurde es spannend.
»Ein weiteres Merkmal ist, dass die beiden Gipfel genau auf einer west-östlichen Linie liegen.«
»Das heißt, wenn ich dort oben stehe, geht die Sonne hinter mir auf, wandert nach Westen und geht dann hinter dem Ballon unter?«
»So ist es. Der 21. März war für die Kelten ein besonderes Datum. Tag und Nacht sind gleich lang. Der Winter ist vorbei.« Geiger freute sich sichtlich, sein Wissen anbringen zu können. »Die Kelten waren nicht nur Krieger, wie es die heutige Geschichtsdeutung gerne in den Vordergrund rückt. In erster Linie waren sie Bauern. Und das Wichtigste für alle Bauern zu allen Zeiten ist es, verlässliche Zeitpunkte für Aussaat und Ernte zu haben. Das Überleben der ganzen Gemeinschaft hing davon ab.«
Kaltenbach dachte an Onkel Josef. Dessen Kalender würde für künftige Wissenschaftler eine harte Nuss sein.
»Und der 21. März?«
»Einer der wichtigsten Zeitpunkte des Jahres. Dieser Tag war der Göttin Ostara geweiht. Von ihr erbat man sich gutes Wachsen und Gedeihen für die Felder.« Geiger steckte seine Pfeife wieder an. Mit den typischen kurzen Zügen weckte er die verbliebene Glut zu neuem Leben.
»Daher kommt im Übrigen der Name ›Ostern‹! Mit dem Hasen und den Eiern haben wir zwei der stärksten Fruchtbarkeitssymbole vereint.«
Ostara! Davon hatte auch König gesprochen.
»Manche Forscher vermuten einen Zusammenhang mit der Göttin Abnoba, die Sie ja im Colombi-Museum kennengelernt haben. Auch sie wird mit dem Hasen in Verbindung gebracht.«
Ein Lichtfunke bildete sich im Trüben und nahm rasch zu. Das große Puzzle kam in Bewegung, die Teile ordneten sich.
»Das ist übrigens längst nicht alles.« Geigers Stimme drang zu ihm wie durch einen Samtschleier. »Ich nehme an, Sie haben schon einmal von der keltischen Anderswelt gehört?«
Kaltenbach nickte. Er spürte, wie der Lichtfunke eine Stimme bekam.
»Wir würden es vielleicht Jenseits nennen, oder Land der Geister. Für die Kelten war die Anderswelt das Reich der Götter und Helden, der guten und der bösen Mächte, die Welt der Verstorbenen. Für die Menschen damals war diese Welt völlig real, sie existierte sozusagen parallel zu dem, was wir heute allein als Realität bezeichnen. Die Götter lenkten und bestimmten das Schicksal der Lebenden und des Lebens. Die keltischen Priester genossen daher hohes Ansehen, sie hatten die Macht über Leben und Tod, denn sie allein konnten in die Anderswelt gelangen, sie allein kannten die Zugänge.«
»Die Druiden?«
»Druiden, Schamanen, heilige Männer. In fast allen Kulturen gibt es Mittler zwischen Menschen und Göttern.«
Die kleine Kerze im Stövchen war ausgebrannt. Als er es bemerkte, sprang Geiger auf. »Entschuldigen Sie, ich bin ein unaufmerksamer Gastgeber. Bitte warten Sie einen Moment.« Er nahm das Tablett mit dem Teegeschirr und verschwand nach draußen.
Die Pause tat Kaltenbach gut. Ihm schwirrte der Kopf. Wenn Sutter sich als keltischer Druide betrachtete, würde er natürlich auch deren Riten und Feste zelebrieren. Doch wozu? Für seine wenigen ›Wächter‹-Anhänger? Für die Gelegenheitsjünger wie der pensionierte Oberstudienrat? Eigentlich nicht dumm, dachte Kaltenbach. Die Menschen der heutigen Zeit suchten ständig neue Sensationen und Ablenkungen. Sutter bot ihnen bestes Theater und verdiente wahrscheinlich nicht schlecht daran. Nachdenklich fuhr Kaltenbach mit dem Zeigefinger das Dreieck auf der immer noch vor ihm liegenden Karte nach. Doch dafür brachte man keine Menschen um.
Geiger kam mit dem Tablett zurück, auf dem jetzt eine Karaffe mit Gläsern und einer Schale Kekse stand. Er lud das Ganze auf einem kleinen Sideboard ab und schenkte ein.
»Apfelsaft aus eigenem Garten. Garantiert naturrein. Kein Zucker. Bedienen Sie sich.«
Das trübe, bräunlich schimmernde Getränk schmeckte vorzüglich. Geiger wusste, was gut war. »Weiß man, wie so eine Beschwörung ablief?«
»Die Druiden kannten die Orte, die den Zugang zur Anderswelt bildeten, vor allem Quellen, Teiche, Seen – Wasser allgemein. Aber auch Höhlen oder einfache Erdlöcher. Und natürlich
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