Teufelsleib
ihm diese Theorie. Er besprach sich mit seinen Kollegen Nicole Eberl und Bernhard Spitzer, die sich seiner Meinung anschlossen. Sie würden diese Wohnung finden!
Und er glaubte auch nicht mehr, dass Anika in einem Callcenter gearbeitet hatte. Nie und nimmer hätte sie sich dann derart teuren Schmuck und Designerkleidung leisten können. Außerdem hätten sich gewiss längst Kollegen bei der Polizei gemeldet, schließlich war das Foto der Toten in verschiedenen Zeitungen gewesen. Doch es schien, als habe Anika zu keinem Menschen Kontakt gehabt, außer vielleicht zu solchen, die niemals zur Polizei gehen würden.
Die jungen Frauen aus der Nachbarschaft ihrer Eltern, die mit Anika Zeidler befreundet gewesen waren oder sie näher kannten, versicherten, nichts von einem möglichen Doppelleben gewusst zu haben. Wen immer man auch nach ihr fragte, die Antworten glichen sich beinahe aufs Haar. Allerdings hatte sie schon vor Jahren angedeutet, unbedingt aus dem asozialen Mief, wie sie es nannte, ausbrechen und sich irgendwo eine gescheite Existenz aufbauen zu wollen, doch wie und wo sie das schaffen wollte, verriet sie niemandem. Sie sagte nur, sie wolle nicht enden wie ihre Eltern, die mit Mitte vierzig schon keine Perspektive mehr hatten. Sie hatte keinen Freund und in der Vergangenheit auch nur zwei kurze Beziehungen gehabt, sie hatte die mittlere Reife mit Bravour bestanden und danach beschlossen, auch noch ihr Abitur zu machen, das sie ebenfalls überdurchschnittlich gut abschloss. Sie wollte studieren, was genau, konnte keiner sagen, nicht einmal ihre Eltern, mit denen sie kaum über ihre Zukunft gesprochen hatte.
Auch wenn Anika Zeidlers Eltern ordentliche und gut in die Gesellschaft integrierte Menschen waren, so verdichtete sich im Laufe der Ermittlungen der Eindruck, dass sie für sich keine Chance mehr sahen, je aus dem Hochhausghetto in der Hugo-Wolf-Straße in Lauterborn herauszukommen. Die Einzige, die es schon mit neunzehn geschafft hatte, war Anika gewesen. Und mit neunzehn hatte sie auch nach und nach den Kontakt zu ihren ehemaligen Freundinnen und ihrem Bekanntenkreis abgebrochen.
Anika meldete sich beinahe jeden Nachmittag gegen fünf bei ihren Eltern, meist handelte es sich um belanglose Telefonate, in denen sie von ihrer Arbeit berichtete, man sprach über dieses und jenes, ohne tiefschürfend zu werden. Das behielt man sich für den Sonntag vor.
Brandt konnte nicht verstehen, warum die Zeidlers so wenig über ihre Tochter wussten. Entweder war es Desinteresse, oder sie gewährten ihrer Tochter die Freiheit, die sie selbst nicht mehr hatten. Das Einzige, was er noch erfuhr, war, dass Anika hin und wieder mit einer Freundin, die ihre Familie jedoch noch nicht kennengelernt hatte, das Wochenende verbrachte. Sie sei aber die meiste Zeit auf ihrem Handy erreichbar gewesen. Brandt wurde daraufhin den Verdacht nicht los, dass ihm noch etwas verheimlicht wurde, doch er erhielt keine weiteren Informationen von der Familie.
Anika Zeidler war laut rechtsmedizinischem Gutachten zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens am 6. März getötet worden, stranguliert mit einem Schal, wie sich bei der Obduktion herausstellte, als Andrea Sievers und Prof. Bock kaum sichtbare Seidenfasern am Hals fanden. Sie war mindestens eine halbe Stunde von ihrem Peiniger gequält worden, bevor er sie von ihrem Leiden erlöste. Bei ihrem Auffinden war sie vollständig bekleidet gewesen, doch ob der Fundort auch der Tatort war, konnte nicht geklärt werden. Es war wie ein tiefes, dunkles Loch, in das die Ermittler blickten, ein unendlich tiefes und sehr, sehr dunkles Loch.
Wer war Anika Zeidler wirklich gewesen? Welches Geheimnis hatte sie mit ins Grab genommen? Je mehr Zeit verstrich, desto weniger glaubte Brandt daran, die Lösung irgendwann zu finden. Eine Theorie schien immer wahrscheinlicher – Anika Zeidler hatte keine Freundin, sondern einen vermögenden Freund gehabt, der ihr womöglich eine Wohnung eingerichtet hatte, und sie hatte ihn im Gegenzug mit anderen Annehmlichkeiten verwöhnt. Es war durchaus möglich, dass dieser Freund auch ihr Mörder war und die Wohnung weiterhin bezahlte, um nicht in Verdacht zu geraten. Oder sie gehörte ihm und er zog sich dorthin zurück, wenn er seine Ruhe haben wollte. Und er meldete sich nicht bei der Polizei, weil sonst
sein
Doppelleben aufgeflogen wäre. Sie gingen von einem älteren Mann mit Familie aus, zwischen vierzig und sechzig, der auf seinen guten Leumund achten musste.
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