Teufelsleib
vier Tage nachdem sie von ihren Eltern und ihrem Bruder zum letzten Mal gesehen worden war, wurde Anika Zeidler von dem Hund eines Ehepaars in einem Gebüsch am Mainufer entdeckt.
Die junge Frau war zum Zeitpunkt ihrer Ermordung einundzwanzig Jahre alt gewesen, am Tag ihres Auffindens hätte sie Geburtstag gehabt. Der durchschnittlichen Lebenserwartung deutscher Frauen zufolge hatte sie gerade ein Viertel ihres Lebens hinter sich.
Die Rechtsmedizinerin Andrea Sievers hatte Wochenendbereitschaft gehabt. Und so hatten sie und Peter Brandt, deren Verhältnis nur noch beruflicher und dazu sehr kühler, bisweilen fast frostiger Natur war, gemeinsam vor der Toten gestanden. Sievers hatte kopfschüttelnd gesagt: »So jung und wie Müll entsorgt. Das lässt mich noch immer nicht kalt. Es gibt nur eines, was schlimmer ist, und das ist ein ermordetes Kind. Wenn ich nur wüsste, was in dem Kopf eines solchen Perversen vorgeht.«
»Wieso pervers?«, fragte Brandt lakonisch, der die Leiche als einer der Ersten vor Ort in Augenschein genommen und nichts Außergewöhnliches festgestellt hatte – außer dass die Frau tot war.
»Du stellst vielleicht Fragen! Ist es nicht pervers, wenn so eine junge Frau ohne erkenntlichen Grund umgebracht wird?« Sievers brachte es auf die Palme, dass er so ruhig und scheinbar teilnahmslos vor einer gewaltsam zu Tode gekommenen jungen Frau stand.
»Ob es einen Grund gab oder gibt, wird sich noch herausstellen, unsere Ermittlungen stehen ja noch ganz am Anfang«, hatte Brandt gelassen erwidert, auch wenn ihn der Mord alles andere als kaltließ, doch das brauchte niemand zu wissen. Natürlich fand er es auch diesmal erschütternd, eine ermordete junge Frau auf dem Tisch liegen zu sehen, doch in den mittlerweile fast dreißig Berufsjahren hatte er gelernt, inneren Abstand zu wahren. Zu viele Emotionen waren fehl am Platz, sie erschwerten nur die Ermittlungen. Er könnte dann nicht abschalten, brächte den Beruf mit nach Hause, würde unter Schlafproblemen leiden und damit über kurz oder lang unbrauchbar werden.
Sein Vater, ein ehemaliger Polizist, hatte ihn gelehrt, Berufliches und Privates strikt voneinander zu trennen, nur so könne er in diesem Knochenjob bestehen. Brandt hatte in den vielen Jahren einige Kollegen kennengelernt, die an ihrem Beruf zerbrochen waren, weil sie sich persönlich zu sehr einbrachten. Es gelang ihnen nicht, die Arbeit im Büro zu lassen. Sie flüchteten sich in Alkohol, manch einer in Tabletten oder andere Drogen, Ehen zerbrachen, weil die Frauen ihre Männer nicht mehr ertrugen, manche wurden krank, andere mussten in den vorzeitigen Ruhestand gehen. Zwei Kollegen hatten sich sogar das Leben genommen. Eines aber hatte auch Brandt bislang nicht ablegen können und wollen, Mitgefühl, nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Angehörigen, Freunde und Bekannten. Und das war gut so, zeigte es ihm doch, dass er noch Gefühle hatte.
»Ja, aber sieh sie dir doch an«, sagte Sievers, die schon zu den Zeiten, als sie noch zusammen waren, nicht gut mit Brandts bisweilen stoischer Ruhe zurechtgekommen war. Sie deutete auf die unbekleidete Tote. »Was fällt dir auf?«
Brandt trat näher an den Tisch. »Klär mich auf, liebe Andrea.«
»Hör zu«, fauchte sie ihn an, »ich dachte, das Thema hätten wir durch. Ein für alle Mal, ich will nie wieder so von dir genannt werden. Du hast ja jetzt schließlich deine liebe Elvira. Hab ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
»Entschuldigung, ich wollte nicht deine Gefühle verletzen …«
»Das hast du schon längst geschafft, aber das lassen wir jetzt mal außen vor. Sieh dir lieber die Kleine an.«
Er zuckte etwas ratlos die Schultern. »Was soll mir großartig auffallen, außer, dass sie zu Lebzeiten ausgesprochen hübsch war?«, sagte er immer noch ruhig. »Na ja, eigentlich ist sie’s ja immer noch«, fügte er hinzu.
»Bist du blind, oder was? Hier«, erwiderte sie mit funkelndem Blick und deutete mit der rechten Hand demonstrativ auf die Tote. »Es gibt keinerlei äußere Verletzungen, nicht einmal eine Drosselmarke am Hals, nur geringe petechiale Blutungen in den Augenbindehäuten und den Lidern, eine leichte Gesichtszyanose, aber keine Hämatome und auch keine sichtbaren Einblutungen in die Halsmuskulatur. Nicht einmal eine Exkoriation …«
»Gibt’s das auch auf Deutsch?«, fragte er lakonisch.
Andrea rollte mit den Augen und fuhr noch eine Spur gereizter fort: »Eine Exkoriation oder auch
Weitere Kostenlose Bücher