Teufelsmauer
jeder.«
Morgenstern nickte und dachte daran, wie er selbst mit zunehmenden Jahren immer häufiger zu nachtschlafender Stunde durch die Wohnung taperte, auf dem Weg zur Toilette oder in die Küche für einen Schluck kalter Milch aus dem Kühlschrank. Und dann hatte er immer wieder, viel zu oft, Träume, die ihn unschön aus dem Schlummer rissen â wie neulich die grässliche Vision vom Sturmangriff auf den Limesturm. Fionas indianischer »Traumfänger« hatte wieder mal versagt.
Und mit einem Mal fiel Morgenstern ein, dass nicht nur er, der Skeptiker, einen geflochtenen Weidenring über seinem Bett baumeln hatte. Auch Barbara Breitenhiller, die Limeskönigin, hatte einen. Mit einem Netz aus dünnen, roten Schnüren und einigen besonders hübschen Federn. Jetzt erinnerte er sich genau. Schwarze Federn von Dohlen oder Krähen und kleine, weiÃe Daunen von Gänsen oder Enten.
»Hatte Frau Breitenhiller einen schlechten Schlaf, Herr Russer?«
»Sie machen sich keine Vorstellung. Ich weià nicht, wie oft ich aufgewacht bin, weil sie auf einmal gewimmert hat. Manchmal hat sie auch richtig aufgeschrien. Mitten in der Nacht. Mit geschlossenen Augen, im Schlaf.«
»Ein Stamperl Schnaps wirkt manchmal Wunder«, sagte Morgenstern in die aufkeimende Stille hinein. »Und in manchen Fällen ein indianischer Traumfänger.«
Gundekar Russer sah Morgenstern überrascht an. »Der Traumfänger? Mit den Dohlenfedern? Er ist Ihnen aufgefallen?«
»Natürlich«, sagte Morgenstern mit einer Spur von Ermittlereitelkeit in der Stimme. »Wir achten auf alle Details.« Hecht sah ihn überrascht an.
Russer nickte. »Ich habe ihn gemacht und ihn ihr zum Geburtstag geschenkt. Ich habe mich mit diesen Dingen beschäftigt, bin viel in der freien Natur. Die Dohlenfedern habe ich vom Fuà der Willibaldsburg. In der Burgmauer nistet eine ganze Dohlenkolonie.«
»Frau Breitenhiller hatte aber weiterhin Alpträume«, fasste Morgenstern zusammen.
»Ja, Barbie hatte furchtbare Alpträume. Ich habe sie dann jedes Mal an den Schultern gepackt und geschüttelt, damit sie wach wird, und dann habe ich versucht, sie zu beruhigen. Ich habe sie ganz fest an mich gedrückt, bis sie wieder eingeschlafen ist. Am Morgen hat sie sich dann an nichts mehr erinnert. Weder an den bösen Traum noch daran, dass ich sie geweckt habe.«
»Sie hat sich nie daran erinnert, was sie geträumt hat?«, fragte Morgenstern ungläubig. »Ich weià meine Träume am Morgen fast immer. Ich glaube, ich wäre ein perfekter Kandidat für Siegmund Freud gewesen.«
»Wussten Sie, dass die alten Völker Meister waren in der Kunst der Traumdeutung?«, fragte Russer. »Das Alte Testament zum Beispiel ist voll von Geschichten, in denen Träume gedeutet werden. Denken Sie nur an den Pharao von Ãgypten, dem Joseph den Traum mit den sieben fetten und den sieben mageren Kühen erklärt. Und die Römer glaubten auch an die Macht der Träume. Julius Cäsar hat in der Nacht vor den Iden des März seinen Tod geträumt.«
»Aha«, sagte Morgenstern. »Und was hatte es mit Frau Breitenhillers Träumen auf sich?«
Russer zupfte am Wolfsfell. »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass sie in der Nacht manchmal geschrien hat oder gesprochen. Sätze aus dem Zusammenhang gerissen. Satzfetzen.« Er sprach nun ganz leise, so leise, dass die beiden Kommissare noch näher an ihn heranrückten, um ihn verstehen zu können.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Morgenstern, nun ebenfalls mit gesenkter Stimme.
»Es ist mehrmals passiert, drum kann ich mich so gut daran erinnern. An jedes Wort. Sie sagte: âºNein, das darfst du nicht. Onkel, lass mich!â¹Â«
Mit einem Mal war es so still, dass das Kritzeln von Hechts Füllfederhalter auf dem Papier zu hören war.
Russer lehnte sich zurück an die warme Mauer der Stadtkirche. Er drehte den Kopf in die Sonne, bis ihm die Augen feucht wurden und er blinzeln musste.
»Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich kapiert habe, was mit ihr ist. Was Barbies Problem ist. Bei Ihnen hat es jetzt wahrscheinlich schneller gefunkt.«
»Ich denke schon«, sagte Morgenstern. »Sie glauben, dass Barbara Breitenhiller als Kind von ihrem Onkel misshandelt worden ist.«
»Misshandelt? Missbraucht!«, sagte Russer. »Und zwar nicht von irgendeinem Onkel, sondern von ihrem
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