The Cutting
entriegelt. »Ich muss etwas holen.«
Er beugte sich ins Innere, wühlte in einer kleinen Leinentasche herum und tauchte dann mit einer Spritze und einer kleinen Flasche wieder auf. »Ich bin Diabetiker«, sagte er erklärend. »Ich muss mir immer pünktlich mein Insulin spritzen.« Vorsichtig schob Harry die Subkutannadel in die Flasche und zog eine durchsichtige Flüssigkeit auf. »Dauert bloß eine Sekunde.« Lucy lächelte. Da sie es als unhöflich empfunden hätte zuzusehen, wandte sie sich ab und blickte hinaus auf den Park. Der Nebel hatte sich kein bisschen gelüftet, sondern schien eher immer dichter zu werden. Sie machte ein paar Dehnübungen, um ihre Muskeln während des Wartens aufzuwärmen.
Sie nahm die plötzliche Bewegung in ihrem Rücken wahr, ohne sie zu sehen. Noch bevor sie reagieren konnte, hatte Harry Potter ihr den linken Arm um den Hals gelegt und sie mit einer heftigen Bewegung nach hinten gerissen, so dass sie jetzt in einem klassischen Würgegriff gefangen war. Seine Ellenbeuge schnürte ihr die Luft ab. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie wollte schreien, brachte jedoch nur ein dünnes, ersticktes Fiepen hervor.
Panisch und verwirrt bohrte Lucy dem Mann ihre Fingernägel ins Fleisch. Wenn sie doch nur länger und schärfer gewesen wären. Da spürte sie einen Stich. Sie blickte nach unten und sah, wie der Mann mit der freien Hand den Inhalt der Subkutanspritze, was immer dieser sein mochte, in ihren Arm entleerte. Er ließ sie dabei nicht los. Sie versuchte sich zu wehren, aber er war zu stark, sein Griff zu fest. Schon nach wenigen Sekunden ergriff Benommenheit von ihr Besitz. Sie spürte, wie er sie, eine Hand an ihrem Hinterkopf, die andere an ihrem Po, mit dem Kopf voraus und dem Gesicht nach unten auf die Rückbank seines Wagens bugsierte.
Lucy drehte ihren Kopf. Sie konnte immer noch zur offenen Tür hinaus sehen, aber die ganze Umgebung wirkte irgendwie verschleiert und weit entfernt, wie ein Film in Zeitlupe, der von Bild zu Bild dunkler wurde und überhaupt keinen Sinn ergab. Sie sah einen wütenden Fritz, der knurrend seine Zähne in das Bein des Mannes schlug. Sie hörte einen Schrei: »Scheiße!« Zwei große Hände hoben den kleinen Hund vom Boden hoch. Sie versuchte aufzustehen, konnte aber nicht. Das Letzte, was Lucinda Cassidy zu sehen bekam, war der gut aussehende Mann mit den dunklen Augen. Er lächelte sie an. Der Zeitlupenfilm verblasste und wurde schwarz.
2
Freitag, 19.30 Uhr
Die Zahl der Sommergäste im Old Port hatte sich jetzt, nach dem Labor Day, deutlich verringert, aber die Luft war warm, und die Exchange Street brummte. Geschäfte und Restaurants hatten lange geöffnet und waren voll. Gruppen von Jugendlichen in unterschiedlichen Stadien der Verwahrlosung – manche mit Piercings und Tätowierungen, manche ohne – nahmen die Bürgersteige ein, so dass die Touristen, die in der Regel mittleren Alters waren, auf die engen Straßen ausweichen mussten.
Detective Sergeant Michael McCabe und Kyra Erikson gingen Händchen haltend nebeneinander her. Sie hatten nur Augen füreinander, plauderten fröhlich, und jeder, der sie sah, konnte erkennen, dass die beiden ein Liebespaar waren.
An diesem Abend wollten sie ins Arno, das neueste norditalienische In-Lokal der Stadt. Wie üblich war das Kyras Wunsch gewesen. McCabes Restaurant-Gewohnheiten waren so vorhersehbar wie langweilig. Er bestellte eigentlich immer das Gleiche: Rumpsteak, blutig, davor einen schottischen Single Malt ohne Eis und zum Steak ein paar Flaschen kaltes Shipyard Ale.
Im Gegensatz zu ihm war Kyra eine richtige Feinschmeckerin. Sie freute sich jetzt schon auf eine der Spezialitäten des Arno. »Entenfleisch-Ravioli«, rezitierte sie, während ihr praktisch der Sabber aus den Mundwinkeln lief, »serviert in hellbrauner Soße, dazu Carpaccio von der gegrillten Entenbrust.«
Für McCabe waren ihre unterschiedlichen Einstellungen zum Essen kein Problem. Es machte ihm nichts aus, ihrer Leidenschaft für Haute Cuisine nachzugeben. Nach dem Essen wollten sie gemeinsam zu ihm nach Hause gehen und sich einen Film anschauen, John Schlesingers Geliebter Spinner mit Tom Courtenay und einer jungen, ausgesprochen verführerischen Julie Christie. Ein Lieblingsfilm McCabes aus seinem früheren Leben als Student an der New Yorker Filmakademie. Er hatte Kyra gegenüber nie erwähnt, dass sie ihn an Julie Christie in der Rolle der Liz erinnerte. Sie besaß die gleichen blonden Locken, die gleichen klaren,
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