The Dead Forest Bd. 2 Das Land der verlorenen Träume
kühler Schauder überkam sie. Zehn ungeheuer geschickte Fingerspitzen huschten ihr übers Gesicht und erfassten in Sekundenbruchteilen jeden Millimeter ihrer Haut, fuhren in identischen Bögen erst ihre Brauen und dann ihre Wangen entlang. Dann kehrten sie zur rauen Haut ihrer linken Wange zurück, untersuchten und streichelten, und Gaias Narbe pochte unter der Berührung. Schließlich glitten die Finger sanft ihre Nase, Lippen und ihr Kinn hinab und verharrten zuletzt an ihrem Kiefer, hielten sie fest, prägten sie sich ein. Gaia konnte kaum atmen.
Sie öffnete die Augen. Die Matrarch schien ihren Blick fragend zu erwidern. Ganz gleich, wie oft man sie schon angestarrt hatte – kein Fremder hatte sie je so berührt, und die Intimität des Moments machte Gaia zu schaffen. Es war fast wie eine Prüfung und traf sie bis ins Mark – halb Würgegriff, halb Liebkosung.
Das Gesicht der Matrarch aber war die reine Konzentration. Glitzernd fingen ihre hellen, blinden Augen den Schein der Flammen ein.
Verwirrt wollte sich Gaia zurückziehen – doch irgendwie konnte sie nicht. Sie fand auch keine Worte. Die Hände der Matrarch strichen ihr leicht über Haar und Schultern, bis sie ihre Halskette fanden.
»Was ist denn das?«, fragte sie. Sie hob die Uhr etwas an, bis man deutlich das Ticken hören konnte.
Endlich bekam Gaia wieder Luft und wich leicht zurück. Es war, als sei ein Bann von ihr gefallen. »Meine Taschenuhr. Ein Geschenk meiner Eltern.«
Die Matrarch ließ die Uhr bedächtig sinken. Noch einmal bekam Gaia eine Gänsehaut und kauerte sich wieder vorm Feuer zusammen, die Arme um die Knie gelegt. Was hast du da gerade mit mir gemacht?
»Mir war nicht klar, wie kompliziert das alles ist«, meinte die Matrarch schließlich.
Gaia stieg das Blut zu Kopf. »Bloß weil Ihr meine Narbe gespürt habt, heißt das noch lange nicht, dass Ihr mich kennt.«
Die Matrarch lachte sanft. »Glaubst du, das ist alles, was ich gesehen habe?«
»Ich weiß nicht, wovon Ihr redet.«
»Du leidest solche Not, mein Kind. Jede Faser deines Herzens sehnt sich nach jemand, der sich um dich kümmert.« Die Matrarch hob die Brauen und schürzte nachdenklich die Lippen. »Die Männer werden sich zu dir hingezogen fühlen. Sie werden dich beschützen wollen. Natürlich bist du jung und verheißungsvoll – doch es ist deine Sehnsucht, die sie in ihren Bann schlagen wird.«
Gaia wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte. Sie wollte nicht das verletzliche, kleine Mädchen sein, das die Matrarch da beschrieb.
»Was stelle ich nur mit dir an?«, überlegte die Matrarch.
»Ihr müsst gar nichts mit mir anstellen. Ich komme schon ganz gut alleine zurecht.«
Die Matrarch lachte. »Solch eine Unabhängigkeit. Hattest du denn keinen Freund daheim? Das zu glauben fällt mir schwer.«
Von der einsamen Stelle in ihrem Herzen her breitete sich eine dunkle Stille aus. Sie konnte jetzt aber nicht über Leon reden – es war so viel leichter, wenn sie nicht an ihn dachte.
»Auch egal«, sagte die Matrarch, mitfühlender als zuvor. »Wie du schon sagtest, du kommst ganz gut alleine zurecht. Was zählt, ist, dass du nun hier bist. Ich möchte, dass du dich um unsere Schwangeren kümmerst. Mir fallen spontan mindestens sechs Frauen ein, und wahrscheinlich sind es noch mehr. Würdest du das tun?«
Das wenigstens war etwas, wovon Gaia etwas verstand.
»Ja, aber mir fehlen die nötigen Sachen. Hatte eure letzte Hebamme vielleicht einen Kräutergarten?«
Die Matrarch nickte. »Sie hat ein wenig abseits gewohnt, unten am Strand. Das Grundstück ist mittlerweile beinahe zugewuchert. Die meisten ihrer Kräuter habe ich in den Küchengarten verpflanzen lassen, als sie starb, aber ich weiß nicht, wie geschickt sich Norris dabei angestellt hat.«
Gaias Lebensmut war neu entfacht. »Wenn ich das für Euch tue – wenn ich mich um die Schwangeren kümmere –, kriege ich dann meine Schwester zurück?«
Die Hände der Matrarch, die ihr Strickzeug wieder aufgenommen hatte, erstarrten, und sie legte den Kopf schief, so als lausche sie. Über sich im Haus hörte Gaia Geräusche. Die Bewohnerinnen des Mutterhauses erwachten und standen auf. Aus der Küche hörte sie fernes Plätschern.
»Ich will ehrlich mit dir sein«, sagte die Matrarch. »Die Antwort ist Nein. Ich werde dich deine Schwester niemals großziehen lassen. Aber ich lasse dich zu ihr.«
»Und wann?«
»Sobald ich mich darauf verlassen kann, dass du nicht versuchst, meine Autorität
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