The Dead Forest Bd. 2 Das Land der verlorenen Träume
zu untergraben. Du darfst dich nicht einfach davonschleichen. Du sollst auch nicht mit den Libbies verkehren. Ich möchte, dass du zusammen mit den anderen jungen Damen die Schule besuchst und dich mit unseren Sitten vertraut machst.«
Damit konnte Gaia leben. »Es gibt eine Schule?«
»Lady Roxanne gibt vormittags Unterricht. Kannst du lesen?«
»Ja«, sagte Gaia. »Ich bin nur ein wenig langsam. Sie wird mich doch nicht laut vorlesen lassen?«
Die Matrarch lachte, und zum ersten Mal klang es herzlich. »Nein, keine Sorge. Du wirst schon mit ihr zurechtkommen. Alle mögen sie.«
Gaia lächelte scheu. Dann ließ sie den Blick wieder zu den Tischen und Stühlen schweifen und entdeckte ein paar Bücherregale in der Ecke. Sie hatte nie Gelegenheit gehabt, eine Schule zu besuchen. Sie war immer neidisch auf die Kinder in der Enklave gewesen – doch jetzt bekam sie vielleicht die Möglichkeit, ein paar gute Bücher zu lesen und ihre Neugierde und ihren Wissensdurst zu stillen.
»Eins müsst Ihr mir noch versprechen«, sagte Gaia.
Ein Lächeln umspielte die Lippen der Matrarch. »Und was wäre das?«
»Falls meine Schwester stirbt, will ich zu ihr und sie ein letztes Mal halten. Versprecht mir das, und ich bin mit allem einverstanden.«
Das Lächeln der Matrarch erlosch, und aufrichtiges Mitgefühl trat an seine Stelle. »Ich wäre ja ein Unmensch, dir das abzuschlagen«, sagte sie. »Ich verspreche es dir.«
»Werde ich auch bei Eurer Niederkunft helfen?«
»Das wäre ehrlich gesagt beruhigend. Es ist meine achte Schwangerschaft, doch irgendetwas fühlt sich anders an. Ich hatte zwischendurch auch leichte Blutungen.«
»Wann ist es denn soweit?«
Die Matrarch strich sich nachdenklich mit der Hand über den Bauch. »In zwölf Wochen. Ich bete darum, dass es ein Mädchen wird. Meine Älteste, Taja, ist meine einzige Tochter bislang. Stell dir das vor – ein Mädchen gleich zu Beginn.«
»Wie alt seid Ihr?«, fragte Gaia.
»Dreiunddreißig.«
Über ihnen öffnete sich eine Tür.
»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte die Matrarch. »Geh dich waschen, iss und ruh dich etwas aus. Bis du wieder bei Kräften bist, sollen die Schwangeren hierher kommen, wenn sie deinen Rat brauchen. Lady Maudie wird dir im Obergeschoss ein Zimmer einrichten, damit du und die Patientinnen unter euch sein könnt.«
»Und die Libbies? Dürfen die auch hierher kommen?«
Die Matrarch zögerte. »Es wäre besser, wenn du sie zu Fräulein Dinah bestellst.«
Gaia wollte schon widersprechen, beschloss dann aber, dass sie diese Schlacht auch ein andermal schlagen konnte.
Die Matrarch erhob sich und griff nach ihrem roten Stock. »Das war doch ganz vielversprechend«, meinte sie. »Ein sehr viel besserer Beginn. Und dir ist noch nicht schwindlig oder schlecht geworden, seit du hier bist?«
»Bloß ein bisschen.«
Die Matrarch verstaute ihr Strickzeug in einem kleinen Beutel. »Bald wird die Krankheit schlimmer. Du wirst es erkennen, wenn es soweit ist. Noch könntest du Sylum verlassen – dies ist deine letzte Chance.«
Eine bange Ahnung befiel Gaia, doch sie erhob sich gefasst und stellte ihre Tasse aufs Tablett. »Ich bleibe hier«, sagte sie.
»Dann gibt es noch etwas, das du wissen solltest«, sagte die Matrarch. »Etwas sehr Wichtiges. Ich glaube zwar nicht, dass irgendein Mann deine Unwissenheit ausnutzen würde, aber sicher ist sicher: Männer dürfen dich bei uns nicht berühren. Normalerweise sollten sie dich nicht einmal ansprechen, wenn du nicht zuerst das Wort an sie richtest.«
Das musste ein Scherz sein.
»Wieso denn nicht?«
»Damit dir etwas Luft zum Atmen bleibt. Sonst würden die Männer ja gleich scharenweise um deine Aufmerksamkeit buhlen. Doch du solltest auch den Männern etwas Respekt zollen – zwar neigen sie dazu, einem jeden Wunsch von den Lippen abzulesen, aber es wäre unhöflich, sie herumzukommandieren.«
Gaia lachte auf.
»Ich meine es ernst«, sagte die Matrarch. »Besonders das Berührungsverbot.«
»Aber Chardo hat mich doch schon berührt.«
»Notfälle oder das Berühren auf Anweisung sind natürlich eine Ausnahme. Alle Zärtlichkeiten oder Küsse aber sind strengstens verboten, bis du dir deinen Ehemann gewählt hast.«
»Keine Sorge«, sagte Gaia. Sie würde schon keinen Mann in Sylum berühren oder küssen – das war im Moment wirklich ihr kleinstes Problem.
Tief und fest schlief sie nach ihrem Gespräch mit der Matrarch in ihrem Zimmer mit dem vergitterten Fenster. Als sie
Weitere Kostenlose Bücher