The Dead Forest Bd. 2 Das Land der verlorenen Träume
erwachte, war es Nachmittag. Ihre weißen Stiefel standen an der Tür, ihr Rucksack lag auf dem Stuhl, und der graue Umhang, den Emily ihr in Wharfton gegeben hatte, hing an einem Haken. Man hatte ihr alles wiedergegeben – nur ihre Schwester nicht.
Sie fragte sich, wie lange es wohl brauchen würde, bis die Matrarch sie zu Maya lassen würde.
Den Nachmittag über kamen mehrere Schwangere zu ihr. Gleich die erste fragte sie, ob man nicht irgendwie das Geschlecht des Kindes bestimmen könne. »Natürlich liebe ich meine Söhne«, beteuerte sie. »Aber ein Mädchen wäre so schön!« Erst musste Gaia darüber lächeln, aber als die nächsten drei ihr dieselbe Frage stellten, begann sie den Druck zu erahnen, unter dem die Frauen standen. Ihre letzte Besucherin war noch gar nicht schwanger, wollte aber trotzdem wissen, was sie tun könne, um ein Mädchen zu kriegen. Da kam sich Gaia einfach nur hilflos vor.
Schwach und erschöpft schleppte sie sich zur Küche und ließ sich dankbar in den Schaukelstuhl sinken, den Norris ihr anbot. Es war noch ein warmer Tag geworden, und selbst bei geöffnetem Fenster war die Luft unangenehm drückend.
»Die bist also Hebamme, was? Du wirkst zu jung dafür.«
»Das sagen viele.«
»Meine Nichte Erianthe kriegt ein Kind.«
»Ich sehe sie wahrscheinlich morgen. Es waren heute schon sechs Frauen bei mir.«
All die Gespräche über Babys ließen sie Maya nur noch mehr vermissen. Sie hatte jetzt einen ganzen Tag ohne sie verbracht, und es fühlte sich einfach nicht richtig an.
Norris reichte ihr eine Schüssel Suppe und ein Stück warmes Schwarzbrot, frisch aus dem Ofen. Sie hatte kaum die Hälfte gegessen, da war sie schon satt. Sie ließ den Blick in der Küche umherschweifen, sah die Wasserleitung und auf einer Ablage mehrere dunkle Laibe. Sie musste an Mace denken und die Nacht in der Bäckerei, als sie mit Leon geredet hatte. Wie ungeschickt er sich mit dem kleinen Rührbesen angestellt hatte. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie die Teile des zerbrochenen Spielzeugs immer noch vor sich sehen; aber nicht seine Hände, in denen es lag. Wie gerne hätte sie seine Hände gesehen! Auch seine Stimme vermisste sie.
Sie wollte daran glauben, dass Leon noch am Leben war. Dass die Wachen ihn zurück zur Bastion gebracht hatten, nachdem sie ihn bewusstlos geschlagen hatten, dass er nur einen brummenden Schädel davongetragen hatte. Vielleicht spielte er gerade Schach mit seiner Schwester, sicher und mit allen ausgesöhnt im Kreis seiner Familie. Vielleicht war er im Wintergarten, inmitten von Farnen und Blumen.
Wem machte sie da eigentlich etwas vor? Wenn sie schon vom Unmöglichen träumte – wieso dann nicht gleich, dass Leon durchs Ödland kam, sie zu suchen?
»Du solltest aufessen«, mahnte Norris.
Sie öffnete die Augen und starrte in die halb volle Schüssel. »Ich glaube, mein Magen ist kleiner geworden.«
»Kann schon sein. Aber du brauchst was zu essen. Du musst doch wieder zu Kräften kommen.«
Gaia knabberte noch ein wenig am Brot. Sie fühlte sich immer noch schwach und wusste, wie abgemagert sie wirkte. Ein Blick in den Spiegel heute früh hatte ihr das bestätigt.
»Hast du etwas von meiner Schwester gehört?«, fragte sie.
»Nein.«
Nach und nach räumte er die Reibe, die restlichen Zwiebeln, die Gewürze und andere Kleinigkeiten fort, untermalt vom steten Pochen seines Holzbeins. Auch wenn seine Schritte alles andere als rhythmisch waren, erfüllte es die Küche doch mit einer Art von Musik, die beruhigend war und nicht recht zu seiner schroffen Stimme und dem finsteren Gesicht, das er immerzu machte, passen wollte. Gaia entspannte sich etwas. Una, die Katze, verfolgte Norris’ Bein mit wacher Aufmerksamkeit.
Er reichte Gaia einen Apfel. »Versuch’s mal damit.«
Der Apfel war rot mit goldenen Tupfen und hatte eine etwas raue Haut. Fast war er zu hübsch zum Essen.
»Danke, Norris«, sagte sie. »Ist das eigentlich dein Vor- oder dein Nachname?«
Er hob eine buschige Braue und wischte sich die verschwitzte Stirn. »Mein Muttername, wenn du’s genau wissen willst. Mein Vorname ist Emmett.«
»Dein Muttername? Dann ist Norris der Familienname deiner Mutter?«
»Sag ich doch.«
Es funktionierte also alles umgekehrt: Nicht nur waren die Namen verdreht – der Nachname zuerst, dann der Vorname – außerdem wurden die Kinder nach ihren Müttern benannt, nicht nach den Vätern. »Wo ich herkomme, nehmen Frauen die Namen ihrer Männer an, wenn sie
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