The End (Die neue Welt)
glücklich vereint mit seiner Mrs. Masters.
Doch was bleibt ihr selbst letztendlich?
Sam versucht, nicht zu viel an Mike zu denken. Nur wenn die Trostlosigkeit ihr die Luft zum Atmen nimmt, lässt sie es zu, dass Mike die Wunden aufreißt, die auf ihrer Seele brennen, und sie in Gedanken so fest wie früher in den Arm nimmt, dass sie manchmal blaue Flecken davongetragen hat.
Meistens denkt sie in den Nächten an Mike oder Mr. Masters oder irgendjemand anderen aus ihrer Stadt. Wenn sie sich in ein kleines Zimmer eines Hauses, das auf ihrem Weg liegt, zurückgezogen hat, ist Mike bei ihr. Er isst mit ihr von ihren Dosenrationen, die sie sich in der Glut eines Feuers erwärmt, oder starrt mit ihr einfach nur ins Dunkel des fremden Hauses, deren einstige Bewohner Sam nicht einmal kennt und die nie zurückkehren werden.
Am Tag ist sie meistens allein. Wenn es hell wird und sich ein grauer Schleier über die Felder und Bäume legt, vermeidet sie es, sich zu erinnern. Alles, was sie sähe, würde ihre Wunden nur unnötig vergrößern; eine Wiese, die jener nahe ihrer Stadt ähnelt, über die sie im Sommer so oft barfuß mit Mike spazieren ging, oder ein Hain, in dessen Schatten sie sich ausruhten und liebten, wenn sie sicher waren, dass niemand sie beobachtete. Oder einfach nur die Straße; denn egal, welcher Straße sie folgt, sie würde letztendlich zurück in ihre Stadt und zu Mike führen.
Irgendwann, einige Wochen nach dem Beginn ihrer Reise, hatte sich Sam ein Ziel gesetzt. Sie wollte immer weiter nach Westen gehen und nach ihrer Schwester suchen.
Warum sie denkt, dass ausgerechnet sie noch am Leben ist, weiß Sam nicht, doch der Gedanke an ihre Schwester treibt sie voran und lässt sie jede einzelne Nacht in verlassenen Häusern, Scheunen oder Autos überstehen. So zieht sie weiter, immer in die Richtung, in der die Sonne am Abend verschwindet.
Wann immer es geht, meidet sie die Städte und Dörfer. Die unheimliche Stille, die in der Dunkelheit von Gassen lauert und aus leeren Fenstern quillt, erinnert sie stets an das ewige Schweigen, das in einer Gruft herrschen muss.
Die verlassenen Häuser und verwaisten Plätze schwitzen den Tod aus. Die Luft scheint dicker als auf den Straßen und Feldern zu sein und trägt den Gestank von verrottenden Kadavern mit sich.
Eines Tages war die düstere Silhouette von New York am Horizont aufgetaucht. Selbst auf die Entfernung hin konnte Sam die lebendige, greifbare Stille in den Häuserschluchten fühlen. Die Stadt ragte wie ein gigantischer Grabstein aus der grauen Erde hervor; ein dunkler, verheerter Schatten, der sich zum Sterben niedergelegt hatte.
Es gab Zeiten, da bedeutete New York etwas anderes für sie – damals, als sie dreizehn war und ihre Tante sie mit in die Metropole genommen hatte, um Neil Young zu sehen. Heute bedeutete New York einfach nur noch den Tod …
Sam zog in einem weiten Bogen um die Stadt, Tag um Tag, verlor sie jedoch nie aus den Augen. Sie beobachtete die tote Ruine so, wie der steinerne Friedhof sie beobachtete. Die toten Blicke des archaischen Ungeheuers brannten wie Dolche in ihrer Seele. New York lauerte.
Südlich des schwarzen Kolosses erreichte Sam ein kleines Dorf. Die Häuser und Straßen waren ebenso still und verlassen wie der Rest der Welt. Ein stinkendes Tuch hatte sich über die niedrigen Dächer und schwarzen Schornsteine gelegt und ließ das Dorf wie ein altertümliches Mahnmal erscheinen.
Damals gingen Sams Vorräte zur Neige. Ihre Tasche war leicht und ihr Magen leer. Sie beschloss, entgegen aller Vorsicht, in den dunklen und schweigenden Häusern auf Beutezug zu gehen.
In diesem Dorf, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern kann, tötete Sam zum ersten Mal in ihrem Leben einen Menschen. Es war das erste Mal, dass sie jemandem bewusst das Leben nahm. Was sie daran am meisten erschreckt, ist die Tatsache, wie leicht es ihr gefallen ist. Seither fragt sie sich in jeder Nacht, wie sie wohl in der alten Welt mit einer derartigen Last umgegangen wäre.
Der Mann, den sie in dem Dorf tötete, hieß Bud. Sie denkt mindestens ebenso oft an ihn, wie sie an Mike denkt, wenn auch aus anderen Gründen. Sie ist sich sicher, dass sie heute nicht mehr am Leben wäre, wenn sie Bud nicht getötet hätte.
Der Gedanke dient ihr als seelische Entlastung, wenn sie an jene Nacht in dem kleinen Dorf zurückdenkt. Vielleicht ist ihr das Töten deshalb so leicht gefallen. Vielleicht aber auch, weil sie sich in dieser toten Welt
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