The Forest - Wald der tausend Augen
aber Harry und Jed erledigen sie in rascher Folge, ein Pfeil nach dem anderen bringt sie zu Fall.
Endlich ist Travis allein und in Sicherheit. Seine Kleider sind voller Blut und sogar von hier kann ich sehen, wie seine Brust arbeitet. Und dann hebt er die Hand und winkt, und ich spüre, wie die Plattform erzittert, als Harry und Jed hinter mir auf die Knie fallen.
»Nein«, flüstere ich, denn ich will das nicht wahrhaben.
Er braucht zehn Anläufe, ehe er das Ende seines geflochtenen Seils über den starken Ast eines großen Baumes am Pfad lupfen kann.
Wir spüren die Flammen hinter uns stärker, als er beginnt, das Seil zu spannen.
Alle halten wir den Atem an. Die Hitze versengt uns. Argos winselt und Jakob zittert, während das dicke Seil Stück für Stück über die Lücke kriecht, bis Travis es schließlich festzurren kann.
Es schwankt hin und her. Unsere Rettung.Travis sinkt an einem Baum herunter, und ehe mich jemand zurückhalten kann, winde ich meine Beine um das Seil, kreuze die Knöchel und hangele mich Griff um Griff weiter von
den brennenden Plattformen weg. Harry ruft meinen Namen, ich fühle, dass er nach meinem Fuß langt, aber ich trete um mich und wehre mich dagegen, zurückgeholt zu werden.
»Das ist noch nicht sicher so!«, ruft Harry. »Du solltest uns zuerst rüberlassen, nur für alle Fälle.«
Ich schüttele den Kopf, konzentriere mich auf eine Hand und dann auf die andere, ignoriere die brennende Haut an meinen Knien.
»Du hast doch nicht mal eine Sicherheitsleine!«, brüllt er.
Ich packe das Seil fester und lasse meinen Kopf ein wenig hintenüber fallen, sodass ich Travis sehen kann. Er lehnt an einem Baum, und während ich zuschaue, sackt sein Kopf langsam zur Seite.
»Nein«, schreie ich.
»Du hast nicht mal eine Waffe, falls er sich wandelt!«, ruft Harry.
Aber ich lasse mich nicht von ihren Worten beirren, ich konzentriere mich nur auf eine Hand vor der anderen, das Ziehen in meinen Muskeln. Das Seil schneidet mir ins Fleisch. Ich konzentriere mich auf Travis und mein Bedürfnis, ihn zu berühren, ihn zu spüren, ihn zu heilen.
Als ich die andere Seite erreiche, lasse ich die Beine baumeln, das Blut läuft wieder in meine Füße. Drüben auf der Plattform stehen Jed, Harry, Cass und Jakob im Schein der Flammen.
Ich schaue nach unten, recke den Hals zwischen den
Armen. Zu meiner Linken liegt der Wald der tausend Augen, in dem die Ungeweihten beginnen, sich zusammenzurotten und in unsere Richtung zu schlurfen. Rechts von mir führt der Pfad in die Dunkelheit.
Und genau unter mir ist Travis, sein Körper ist blutig, die Arme hat er hochgestreckt und plötzlich bin ich gelähmt vor Angst. Angst vor der Art, wie er steht, wie er nach mir greift, wie das Blut seine Haut verkrustet, wie er da unten wartet … als ob er mich verschlingen wollte.
32
M ein Mund öffnet sich zum Schrei, doch es kommt kein Laut. Ich baumele an den Händen, mein Körper ist schwer und ich kann kaum atmen. Meine Finger rutschen immer mehr ab, das Seil drückt sich in meine Haut und das Blut daran macht mein Fleisch glitschig. Ich versuche, wieder fester zuzupacken und die Beine hochzuhieven, aber meine Arme sind zu kraftlos. Die Muskeln zittern von der Anstrengung, einfach so dazuhängen, und ich bin wütend, weil ich es so eilig hatte und nicht zulassen konnte, dass Harry mir einen Gurt umwickelt.
Mit tränenverschleiertem Blick sehe ich Travis unter mir an. Seine Finger öffnen und schließen sich. Am Ende lässt er die Arme sinken, schlaff hängen sie an den Seiten herab, er treibt keinen Aufwand mehr.
Mit einem Schwupp lasse ich mich fallen und krieche zu ihm. Er lehnt am Stamm des Baumes gleich hinter dem Tor. Sein Körper zittert, er atmet unregelmäßig und scharf. Aber er lebt noch.
»Travis!« Ich reiße ihn an mich, wiege ihn wie ein kleines Kind. »Du wirst schon wieder«, sage ich ihm. »Dir ist
nichts passiert.« Mein Kinn liegt auf seinem Haar, sein Kopf ruht an meiner Brust.
Sein Blut dringt in mein eigenes Fleisch ein, ich kann es fühlen.
»Warum hast du das gemacht, Travis?«, frage ich. »Warum?« Meine Stimme bricht, ich spüre, wie seine Lippen sich bewegen, doch ich kann keine Worte hören.
Er verdreht die Augen.
Ich schüttele ihn, beinahe brutal. »Das darfst du nicht«, brülle ich ihm ins Gesicht. »Ich lasse das nicht zu!«
Ein Lächeln zuckt um seine Mundwinkel, aus denen ein Rinnsal Blut bis runter zum Kinn tröpfelt.
»Wir bringen das in Ordnung«, sage ich ihm.
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