The Forest - Wald der tausend Augen
kannst ihn haben. Wenn er in der Nähe ist, brauchst du keine Angst zu haben.«
Er umarmt mich, schlingt mir seine kleinen Finger mit Inbrunst um den Hals.
Ich spüre, dass sich Schritte nähern. »Jakob«, sagt Cass, »dein Onkel Jed sucht dich, er braucht deine Hilfe beim Essenmachen.Willst du ihm helfen?«
»Tante Cass, rat mal, was passiert ist?«, ruft er und springt von meinem Schoß. »Mary hat gesagt, ich darf Argos haben, damit er mich vor den Ungeweihten beschützt!«
Cass lächelt und zaust ihm das Haar. »Da hast du dich hoffentlich bei ihr bedankt.« Als er rot wird, sage ich: »Natürlich hat er Danke gesagt.«
Ich zwinkere ihm zu und er hüpft wieder zurück über die Plattform und die Brücken und ruft nach Argos, als wäre die Welt des Todes unter uns gar nicht vorhanden.
»Danke«, sagt sie, als er weg ist, und ich nicke.
Sie lehnt sich gegen das Geländer und schaut prüfend zum Horizont.Vor dem Durchbruch haben wir das letzte Mal richtig miteinander gesprochen, das ist lange her. Da hat sie mir erzählt, dass ich Harry zu heiraten hätte.
»Weißt du«, sagt sie, »es wäre nicht so schwer, wenn sie dich nicht beide so sehr lieben würden. Wenn nicht immer alles nur um dich gehen würde. Schon als wir noch Kinder waren, ist es immer nur um dich gegangen, Mary.«
»Das ist nicht wahr«, sage ich. Aber meine Worte klingen nicht überzeugend, denn ich fühle mich zu leer, um groß zu protestieren.
»Oh, das ist wahr«, sagt sie. Ihr Ton ist leicht, versonnen, nicht wütend. »Als wir Kinder waren, wollte Travis immer deine Geschichten hören. Er wollte wissen, was deine Mutter dir erzählte und was du an mich weitergabst. Harry wollte wissen, was du mochtest und was nicht. Immer ging es um dich. Was du wolltest. Was du wusstest.«
»Das tut mir leid«, sage ich. Weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll.
Sie zuckt die Achseln. »Ich sag das nicht, weil ich Streit anfangen will. Ich will nur, dass du mich verstehst. Verstehst, warum ich mich verändert habe. Warum wir uns alle verändert haben. Eigentlich möchte ich bloß, dass du
wieder meine beste Freundin bist, aber das ist nicht möglich, wenn ich wütend auf dich bin und du so tust, als ob ich nicht vorhanden wäre.«
»Aber das habe ich nie gemacht«, antworte ich.
Sie lacht, ein Hauchen ist es nur. »Ich mach dir keine Vorwürfe, aber es gab mal eine Zeit, da stand ich bei dir an erster Stelle. Da war ich wichtiger für dich als irgendjemand oder irgendetwas sonst. Und als ich nicht mehr an erster Stelle stand, wurde ich wütend. Weil ich nicht nur Travis und Harry verloren hatte, als sich beide in dich verliebten, sondern auch dich. Schon vor dem Durchbruch. Und erst als ich Jakob fand, konnte ich es begreifen. Denn er steht jetzt bei mir an erster Stelle.«
Ich weiß immer noch nicht, was ich zu ihr sagen soll.
»Ich glaub, ich versuche, dir zu verzeihen. Und ich möchte dir sagen, dass mir Harry und Travis und all das nichts mehr bedeuten. Mich interessiert nur Jakob und dass er ein richtiges Leben hat. Dass er aufwachsen kann und seinen Weg in dieser Welt findet. Jakob ist jetzt wie ein Sohn für mich und ich habe immer nur eine Familie haben wollen.« Sie zuckt die Achseln. »Jetzt, wo ich ihn habe, kommt mir all das mit Harry und Travis sinnlos vor. Nichts weiter als die totale Verschwendung von Gefühlen.«
Ich lege mich auf die Plattform, spüre das von der Sonne aufgeworfene Holz durch meine Kleider hindurch. Große weiße Schäfchenwolken gleiten über den blauen Himmel, sie halten ihren Kurs, als hätte es unten auf der
Welt keine Veränderungen gegeben. Als wäre die Welt alles andere als Tod und Verfall und Schmerz.
»Aber manchmal, wenn es nicht viel Hoffnung in der Welt gibt, scheint die Zeit gekommen, Dinge richtigzustellen«, sagt sie.
»Es gibt immer noch Hoffnung«, sage ich. »Sie arbeiten einen Plan aus.« Ich versuche, Formen in den Wolken zu entdecken, aber mir entgleitet alles.
Wieder lacht sie. »Meinst du ihren Plan, bis zum Winter zu warten und dann zu den Zäunen rauszuschleichen? Daran kann ich nicht recht glauben. Wahrscheinlich finden wir hier unser Ende, hier oben auf den Plattformen.«
Die Cass, die ich als Heranwachsende gekannt habe, war nicht so pragmatisch. Diese Welt hat sich für uns alle verändert und uns dazu gezwungen, furchtbare Entscheidungen zu treffen, auf die wir nicht vorbereitet waren.
»Ich will die Hoffnung nicht aufgeben«, sage ich schließlich. »Und ich will
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