The Forest - Wald der tausend Augen
ich
Travis aufgeben würde, wenn ich alles aufgeben würde, was zwischen mir und Gott steht … könnte ich uns dann retten?
Könnte ich sie retten?
Travis geht um Jed und Harry herum und kniet sich ungelenk an den Rand der Plattform, die dem Wald der tausend Augen und dem Pfad am nächsten liegt, der unsere Rettung sein könnte.
Ich krieche zu ihm und helfe ihm beim Knotenbinden.
»Ich versteh nicht, wie das funktionieren soll«, sage ich, während ich mit zitternden Fingern nestele.
»Genauso wie wir hier rübergekommen sind, wird das funktionieren. Aber wir brauchen jemanden auf der anderen Seite, der das Seil festmacht«, sagt er.
Er legt seine Hand auf meine, so ein warmes, vertrautes Gefühl. »Die Tage da drüben im Haus. Das ist meine Welt. Das ist meine Wahrheit«, sagt er. »Das ist mein Meer.«
In seinen Augen sehe ich den Wust von Worten, die er auf dem Herzen hat, doch als er den Mund aufmacht, sagt er nur: »Ich wünschte, ich hätte dich beschützen können.«
Er streicht über meine Lippen, dann steht er auf, um das Seil zu Harry und Jed zu bringen, die sich auf die Überquerung vorbereiten.
Ich strecke die Beine, und ehe ich begreife, was passiert, rennt jemand mit holpernden Schritten an mir vorbei, stürzt sich von der Plattform, fliegt über den Ring von Ungeweihten unter uns hinweg und landet mit einem
Plumps und einem Überschlag. In jeder Hand hält er eine Klinge, das Feuer blinkt auf dem Metall.
Er besinnt sich, rappelt sich hoch und stolpert Richtung Wald davon, auf das Tor zu und den Pfad. Mein buntes, geflochtenes Seil ist um seine Hüfte gebunden und schleift hinter ihm her.
Zuerst ist er allein, die Ungeweihten bemerken seine Anwesenheit nicht. Aber dann bewegen sie sich auf ihn zu. Sie spüren ihn, gieren nach ihm.
»Neiiin!«, kreische ich und packe den Rand der Plattform, so als könnte ich das Seil in die Hände nehmen und Travis zurück in Sicherheit zerren.
Die Schluchzer wollen mich zerreißen, aber ich lasse sie nicht heraus. Stattdessen tropfen Gebete von meinen Lippen, die ich immerzu wiederhole: »Bitte, bitte, bitte, bitte.«
Er stolpert, fällt hin, steht wieder auf, kann aber die Geschwindigkeit seines Sprints nicht beibehalten. Sein Bein ist zu schwach. Er läuft zu schief. Sein Körper ist so zerschlagen.
»Bitte, bitte, bitte, bitte …«
Die Ungeweihten langen nach ihm, ihre Finger zerren an ihm, ihre Füße stolpern über das geflochtene Seil, das sich strafft und ihn immer wieder zurückzieht und auf die Knie zwingt.
»Bitte, bitte, bitte, bitte …«
Ich höre ihn schreien, als der Erste ihn erwischt. Er schlägt um sich, aber es sind zu viele. In einen rammt er eine seiner Klingen, und ehe er sie herausziehen kann,
wird er geschubst und stolpert. Blut tränkt sein Hemd. Mein Bruder ruckt jetzt an meiner Schulter, will mich von diesem Anblick losreißen, aber mein einziger Gedanke ist, dass Travis nichts passieren wird, dass er unbeschadet und ohne sich zu infizieren zu den Zäunen gelangen wird, solange ich ihn nur im Auge behalte.
Wieder stolpert er und die Ungeweihten werfen sich auf ihn.
»Bitte, bitte, bitte …« Ich lege mein Leben in jedes Wort, bin bereit, meines für das seine hinzugeben.
Ein Pfeil saust an meinem Kopf vorbei, noch einer und dann noch ein weiterer und einer mehr. Jeder durchbohrt einen anderen Ungeweihten. Sie fallen der Reihe nach und schließlich kommt Travis unter dem Haufen hervor und humpelt auf das Tor zu.
Harry steht hinter mir, seine Armbrust surrt, sein Gesicht ist blass und nass, aber er zielt entschlossen und genau. Jed lässt mich stehen und tritt an seine Seite. Er legt die zweite Armbrust an und gemeinsam schießen sie die Ungeweihten ab.
Innerlich jubele ich auf, reinster Glaube und Erlösung strahlen aus jeder Pore meines Körpers.
Einen Moment lang, einen herrlichen, blendenden Moment lang habe ich den absoluten, unerschütterlichen Glauben daran, dass Travis es unverletzt bis zu den Zäunen schaffen wird. Dass wir leben werden und sehen, was hinter den Zäunen ist. Dass ich das Meer sehen werde. Ich kneife die Augen zu und hoffe, dieses Gefühl zu bewahren.
Und da fällt Travis abermals. Da dringen seine Schreie an meine Ohren und ich breche zusammen. Meine Arme sind nicht mehr stark genug, um meinen leeren Körper zu stützen.
»Bitte«, flüstere ich ein letztes Mal. Travis steht auf, taumelt, erreicht den Zaun und reißt das Tor auf. Ein paar Ungeweihte folgen ihm, ehe er es schließen kann,
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