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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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Es hat mir geholfen«, und damit legt sich Schwester Tabithas Stirnrunzeln ein wenig.
    »Gebete sind immer die beste Medizin«, sagt sie und dann tritt sie ans Bett. Mit einer Behutsamkeit, die ich nicht für möglich gehalten hätte, zieht sie die Laken von Travis’ Körper, damit sie seine Verletzungen untersuchen kann.
    Blut hat die Stoffstreifen durchweicht, die um seinen linken Oberschenkel gewickelt sind, doch es ist alt und braun. Das muss ein gutes Zeichen sein. Schwester Tabitha weist mich an, Travis’ Hand zu halten, während sie den Verband löst, und ich bereite mich innerlich auf den Anblick dessen vor, was darunterliegt.
    Ich habe derart Schreckliches und derart Groteskes gesehen, dass mir nie in den Sinn gekommen wäre, beim Anblick von Travis’ Wunde könnte mir schwindelig werden oder ich könnte weiche Knie bekommen. Man wächst nicht vom Wald umgeben auf, ohne die grauenvollsten Dinge zu sehen – die Ungeweihten mit ihrer schlaffen Haut, in der die Wunden klaffen, durch die sie sich angesteckt haben, die Finger, die beim Festklammern an den Zaun aufgerissen und gebrochen sind, Gliedmaßen, die nur noch von Knorpel zusammengehalten werden.

    Travis packt meine Hand fester, so als wolle er eher mich trösten als sich selbst Trost holen. Mitten auf seinem Oberschenkel sickert Blut aus einer grellroten klaffenden Wunde, die von einer Reihe großer, schräger Stiche zusammengehalten wird. Schwester Tabitha legt ihre Hände links und rechts neben den Schnitt und drückt. Damit bringt sie Travis zum Wimmern, er verdreht die Augen.
    »Noch hat es sich nicht entzündet«, sagt sie zu mir, ohne aufzuschauen. »Das macht mir Hoffnung.« Sie legt frische Stoffstreifen über das rohe Fleisch. »Aber der Bruch war schlimm, und ich weiß nicht, ob wir den Knochen korrekt richten konnten, wir werden also abwarten müssen. Eines weiß ich allerdings genau«, sie zieht ihm das Laken wieder bis zum Kinn hinauf und deckt ihn fest zu. »Travis wird für den Rest des Winters in diesem Bett bleiben, und er hat Glück, wenn er je wieder laufen kann. Das liegt in Gottes Hand.«
    »Kann …«,Travis zögert, schluckt, sein Gesicht ist blass und Schweiß steht ihm auf der Stirn. »Kann Mary kommen und für mich beten?«, fragt er.
    Schwester Tabitha sieht Travis lange und scharf an, dann mich. Ich halte immer noch seine Hände. Sie nickt ein Mal, eine ruckartige Bewegung, die keinen Herzschlag dauert. »Das darf sie. Aber jetzt muss sie zurück zu ihren Studien. Und du solltest wissen,Travis, dass sie nicht sprechen darf, außer beim Gebet. Also bitte verleite sie nicht dazu.«
    Ich schaue nach unten und sehe mir an, wie Travis’
Finger meine Hand umschließen. Und ich denke zurück an den Tag vor einigen Monaten, an dem sein Bruder Harry und ich uns unter Wasser an den Händen hielten und er mich zum Erntefest einlud, das nun schon lange vorbei ist. Mir fällt ein, wie verschwollen und verkehrt Harrys Haut damals aussah. Rau und schwielig fühlt sich Travis’ Haut im Vergleich zu meiner an.
    Ich drehe Travis’ Hand um, schaue mir die Linien an, die sich kreuz und quer über sein Fleisch ziehen, und kann gar nicht fassen, was ich seither alles verloren habe.

    Jeden Morgen finde ich mich in Travis’ Zimmer ein. Ich helfe Schwester Tabitha beim Reinigen seiner Wunde, die noch immer roh und rot ist und den Schwestern Sorge bereitet. Sie runzeln die Stirn und murmeln Gottes Wort, wenn sie an seinem Zimmer vorbeigehen. Alle beten für seine Genesung. Ich will wissen, was ihm zugestoßen ist, aber ich bleibe stumm, wie man es mir befohlen hat. Sein Knochen ist gebrochen und hat die Haut durchbohrt. Und es heilt nicht so, wie es heilen sollte. Mehr brauche ich nicht zu wissen.
    Meistens ist Travis unter Decken begraben, wenn ich ihn sehe, und nicht ganz bei sich vor Hitze und Fieber. Meistens erkennt er mich nicht. Dann wieder packt er mich, bettelt um Wasser und darum, dass es aufhören möge.
    Wenn ich kann, knie ich mich an sein Bett, lege seine
gefalteten Hände in meine, und dann beuge ich mich ganz nah zu seinem Ohr hinunter und flüstere ihm zu. Eigentlich sollte ich beten, ich weiß, die Schwestern glauben voller Inbrunst, dass nur das Gebet ihn retten wird, aber ich kann es nicht.
    Ich kann das Leben meines Freundes nicht in die Hände von etwas geben, dessen ich mir so wenig sicher bin, auf das ich immer noch so wütend bin, weil es mir meine Familie genommen und mich ganz allein auf der Welt zurückgelassen

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