The Forest - Wald der tausend Augen
hat.
Und deshalb erzähle ich ihm lieber von den Dingen, an die ich glaube, Dingen, von denen ich weiß, dass sie nur wahr sind, weil ich an sie glaube. Ich erzähle ihm die Geschichten, die meine Mutter mir vom Leben vor der Rückkehr erzählt hat.
Ich erzähle ihm vom Meer.
In diesen Augenblicken bin ich in Travis verliebt und verzehre mich danach, ihn wieder ganz zu machen.Wenn ich mein eigenes Leben aus mir herauspressen und mit ihm teilen könnte, damit es ihm besser ginge, würde ich nicht zögern. Und ich begreife es nicht: Wie kann ich Tag für Tag in dieses Zimmer kommen, mein Gesicht so dicht an seines halten, dass meine Lippen seine Wangen und Ohren berühren – und es tritt keine Besserung ein?
Wenn ich nicht bei Travis bin, sondern allein in meinem Zimmer, geht mir der Tag unten am Bach nicht aus dem Sinn, der Tag, an dem meine Mutter sich angesteckt hat. Ich erinnere mich daran, wie Harry mir erzählt hat,
dass Travis meine beste Freundin Cass gewählt hat – und nicht mich.
Obwohl Cass nicht ins Münster gekommen ist und so bei Travis gesessen hat wie ich, obwohl sie ihn nicht so sehr verdient wie ich, vergesse ich nicht, dass Travis sein Versprechen einer anderen gegeben hat. Dass er jetzt um Cass werben würde, wenn er sich nicht das Bein gebrochen hätte. Und dieses Wissen erfüllt mich mit Wut und Sehnsucht, die tief in mir so verflochten sind, dass ich sie nicht voneinander unterscheiden kann – ich weiß nur, dass ich begehre.
Und daher habe ich die Gewissheit, dass ich niemals eine wahrhaftige Dienerin Gottes sein kann, und ich weiß auch, warum ich niemals in der Lage sein werde, mich an die Schwestern hinzugeben.
Ich liebe Travis zu sehr, um auf ihn zu verzichten.
6
I ch habe Travis vom Meer erzählt. Er ist in einen fiebrigen Schlaf gefallen, sein Mund steht offen, aber ich flüstere weiter in seine Träume hinein und versuche, seine Genesung zu erzwingen.Wie gewöhnlich knie ich neben seinem Bett, mit einer Hand streiche ich ihm die Haare aus der Stirn, als hinter mir die Tür aufgeht. Ehe ich feststellen kann, wer es ist, sage ich schnell »Amen« und stehe auf. Meine Wangen sind gerötet und mein Atem kommt in kleinen Stößen.
Als ich sehe, wer die Besucher sind, mache ich große Augen: Cass und Harry, gefolgt von Schwester Tabitha.
»Mary!«, ruft Cass. Sie läuft auf mich zu und schlingt die Arme um mich – und ich umarme sie auch und drücke mein Gesicht in ihr weißblondes Haar. Sogar mitten im Winter riecht sie noch wie Sonnenschein.
Die Tränen beißen schon in meinen Augen und brennen in meiner Kehle. Meine Gefühle sind ein Gemisch aus vielerlei: Ich habe meine beste Freundin vermisst, mir haben Berührungen gefehlt, und ich empfinde es als Verrat, mich in Travis verliebt zu haben. Dieses eine Mal
bin ich froh, nicht sprechen zu dürfen, denn ich habe keine Ahnung, was ich Cass sagen sollte, wie ich ihr erklären sollte, warum ich neben Travis gekniet habe, mit einer Hand in seinem Haar.
»Oh Mary, wie geht es ihm?« Sie lässt sich auf meinen Platz neben Travis nieder, nimmt seine Hand auf die gleiche Weise, wie ich es getan habe. Sogar in seinem Fieberschlaf dreht er den Kopf zu ihr hin.
Ich bin mir sicher, dass er den Sonnenschein riechen kann und dass er sich ebenso danach sehnt wie wir alle. »Travis.« Ihre Stimme ist wie ein weicher Hauch. »Travis.« Sie streicht ihm mit der Hand über die Stirn und er stöhnt leise. Als sie die Hand über seine Wange gleiten lässt, drückt er sein Gesicht dagegen.
Seine Reaktion auf sie bereitet mir solche Schmerzen, dass ich es kaum aushalten kann hinzusehen. Dasselbe Gefühl hatte ich, als ich vor meinem Bruder stand und er mir sagte, ich müsse der Schwesternschaft beitreten, weil niemand für mich gesprochen habe. Dieselbe Leere bläht sich in meinem Inneren auf.
Einen Moment lang will ich Cass vom Bett wegziehen, weg von Travis. Ich will ihn anschreien und ihm sagen, dass sie es ist, nicht ich, und dass er auf mich so reagieren sollte. Dass ich diejenige bin, die von Anfang an da war.
Aber das tue ich nicht. Weil ich glauben will, dass es einen Grund dafür gibt, warum Cass nie zu Besuch gekommen ist, seit Travis verletzt wurde.Weil ich weiß, wie zart besaitet sie ist, und schon das hier, schon ihn fiebrig und stöhnend zu sehen, ist mehr, als sie ertragen kann.
Obwohl er ihr Zukünftiger ist, obwohl wir vier zusammen aufgewachsen und befreundet sind, solange ich denken kann.
Immer ist sie die Schwächere von
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