The Forest - Wald der tausend Augen
der
Rest unseres Lebens genauso gefährlich sein kann. Darüber denke ich nach. Und darüber, wie verletzlich wir hier sind, wie Fische in einem Glas, das von allen Seiten von der Dunkelheit bedrängt wird.
5
A m nächsten Tag werde ich gerufen, weil ich den Patienten pflegen soll, der sich die ganze Nacht ruhig verhalten hat.
»Wir haben viele Pflichten, Mary«, sagt Schwester Tabitha, die mich von meinem Zimmer Richtung Altarraum führt, dann einen Korridor hinunter, eine enge Treppe hinauf und durch einen weiteren langen Korridor mit Türen auf beiden Seiten.
»Genauso wie du gelernt hast, dein Leben dem Herrn zu weihen, wirst du jetzt lernen, wie man für Seine Kinder sorgt. Aber denk dran«, sagt sie, dreht sich um und nimmt mein Kinn in ihre kalte Hand, »dein Schweigegelübde gilt noch immer. Deine Vergünstigungen musst du dir erst verdienen.«
Ich nicke. Ich erzähle ihr nicht, dass ich vor einer Woche die Schrift zum zehnten Mal von Anfang bis Ende durchgelesen habe. Ich war vollauf damit beschäftigt, meine Einsamkeit zu genießen.
Sie öffnet eine Tür, und ich höre ein Stöhnen, das mich an die Ungeweihten erinnert. Ganz kurz erstarre ich auf
dem Korridor und durchlebe den Augenblick noch einmal, in dem meine Mutter sich gewandelt hat, in dem ihre Schreie zu einem seelenlosen Stöhnen wurden.
Sonnenlicht strömt durch ein Fenster, das der Tür gegenüberliegt, und wird von den holzgetäfelten Wänden reflektiert. Welch ein Kontrast zu dem dunklen, engen Flur. Hier ist alles heller als in meinem Zimmer, strahlender. An der Wand in der hinteren Ecke steht ein schmales Bett mit weißen Laken und einer etwas zerschlissenen Steppdecke. Darauf wirft sich ein junger Mann hin und her und zerrt am Bettzeug. »Wasser«, bittet er, und Schwester Tabitha befiehlt mir, nach draußen zu gehen und eine Schüssel sauberen Schnee für ihn zu holen, an dem er lutschen kann, während sie neues Verbandszeug besorgt.
Als ich wiederkomme, sind meine Hände rot und wund vom Schneesammeln. Langsam nähere ich mich dem Bett. Der Patient ist jetzt ruhig. Als er meine Schuhe auf dem Holzfußboden hört, dreht er sich um, und ich sehe, wer es ist.
»Travis«, keuche ich. Meine Stimme ist so rau in meiner Kehle, und ich schaue mich schnell um und vergewissere mich, dass Schwester Tabitha mich nicht gehört hat. Sie würde mich in den Wald schicken, wenn sie es für nötig hielte, daran habe ich keinen Zweifel.
»Mary«, wispert er. »Oh Mary.« Er streckt den Arm aus, ergreift meine Hand und führt sie zu seiner Wange, er zieht mich so, dass ich stolpere und vor dem Bett auf die Knie falle. Etwas von dem Schnee gleitet aus der Schüssel auf den Boden, doch seine Augen sind geschlossen und er
sieht die Flocken nicht auf den verschrammten Fußbodenbrettern schmelzen.
Seine Wange glüht. Ich lege meine Hand auf seine Stirn, so wie meine Mutter es getan hat, wenn Jed und ich als Kinder krank waren. Ich denke daran, wie oft ich ihn beim Spielen auf den Wiesen oder auf dem Weg zum Unterricht zufällig gestreift habe – und doch fühlt sich seine Haut jetzt irgendwie anders an. Erwachsener. Mehr wie die eines Mannes und weniger wie die eines Jungen.
Ich kratze ein bisschen Schnee aus meiner Schüssel und halte ihm die Hand vor den Mund. Seine Zunge umschließt meine Finger, und mir kommt es vor, als ob meine Haut zum ersten Mal in meinem Leben aus ihrer Eisesstarre erwachen würde.
Plötzlich fühlt es sich an, als sei er nicht mein Freund, sondern mehr – und ich muss mich zwingen, daran zu denken, dass es mir nicht zusteht, ihn zu begehren. Er seufzt und sein Körper sinkt entspannt auf die Matratze zurück.
»Bitte, Mary, mehr«, sagt er, immer noch mit geschlossenen Augen. Ich nicke und füttere ihn weiter mit Schnee, sein Atem wickelt sich um meine Finger, sein Körper ist so heiß und ausgetrocknet und durstig.
»Es tut weh, Mary«, flüstert er. »Mein Gott, es tut so schrecklich weh.«
Der Drang, ihn mit Worten zu trösten, überkommt mich, ich will unbedingt wissen, was ihm widerfahren ist, aber ich habe Angst zu fragen und zu riskieren, dass Schwester Tabitha mich sprechen hört und wegschickt –
und dass ich ihn dann nie wiedersehe. Ich presse meine Stirn an seine Wange, meine kühle Haut an seine, und in dieser Stellung verharren wir immer noch, als die Tür hinter uns aufgeht und Schwester Tabitha eintritt. Ihre Miene verfinstert sich.
Es herrscht Schweigen, dann sagt Travis: »Danke für das Gebet, Mary.
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