The Forest - Wald der tausend Augen
ihr anschließen. Wenn ihr beide Gott anfleht, erweist er sich vielleicht als gnädig.«
Cass wendet sich mir zu und legt mir die Hand auf die Wange. »Meine Mary«, sagt sie. »Du bist so gut.«
Nachdem Cass und Harry gegangen sind, geleitet Schwester Tabitha mich zurück in mein Zimmer. »Du hast die Schrift jetzt zehn Mal durchgelesen.« Das ist keine Frage. Und obwohl es mir keine Probleme bereitet, sie anzulügen, indem ich ihr etwas verschweige, bringe ich es doch nicht fertig, ihr direkt ins Gesicht zu lügen. Ich nicke.
»Dann bist du von deinem Schweigegelübde entbunden.«
»Ja«, antworte ich. Nach so vielen Wochen des Schweigens fühlt sich Sprache seltsam an in meinem Mund. Meine Stimme klingt laut und harsch in meinen Ohren, die das sanfte Flüstern an Travis’Wange gewöhnt sind.
»Nun wirst du bald zur nächsten Stufe deiner Studien fortschreiten. Fürs Erste jedoch hilfst du Cass durch diese Schicksalsprüfung und betest weiter für Travis.«
Ich nicke. Auch wenn ich jetzt die Erlaubnis zum Sprechen habe, heißt das nicht, dass ich auch sprechen will, denn das ist mit der Last verbunden, mich Cass erklären zu müssen.
Weil ich schwach bin, erzähle ich Cass nicht, dass mein Schweigegelübde beendet ist. Stattdessen setze ich mich auf einen Stuhl am Fenster, während sie an Travis’ Bett
kniet. Ihre Lippen bewegen sich im Gebet. Travis’ Fieber ist nicht gesunken, nur selten wird er wach, aber oft stöhnt er vor Schmerzen und wirft sich auf dem Bett hin und her. Nach einigen Besuchen dieser Art sehe ich, dass sie erschöpft und traurig und verloren ist, deshalb knie ich mich neben sie und schlinge die Arme um sie. Weinend lehnt sie sich an mich.
Am siebten Tag kommt Cass nicht, und ich befürchte schon, ihr könnte etwas passiert sein. Aber dann kommt Harry und erzählt mir, dass sie es nicht ertragen kann, Travis so leiden zu sehen. Es ist zu viel für sie.
Er bleibt nicht. Er fragt nicht, wie es mir geht oder Travis. Stattdessen hält er einen Moment auf der Schwelle von Travis’ Zimmer inne und betrachtet mich auf meinem Stuhl am Fenster, wo ich sitze und zuschaue, wie sein Bruder friedlich schläft.
»Du liebst ihn«, sagt er. Ich versuche, etwas Anklagendes in seiner Stimme zu finden, doch es gelingt mir nicht.
»Du hast nicht für mich gesprochen«, erwidere ich.
Kurz flackert etwas in seinen Augen auf, dann wendet er sich von mir ab und schaut aus dem Fenster. Ich will, dass er mir sagt, warum. Aber er sagt nur: »Tut mir leid, Mary«, dreht sich um und geht. Ehe er die Tür hinter sich schließt, streift mich sein Blick.
Ich rutsche vom Stuhl und krieche rüber zu Travis, an dessen Bett ich mich auf die Knie hochziehe. Zu lange schon habe ich diese Position nicht mehr eingenommen. In den letzten Tagen war Cass hier.
Travis erholt sich langsam, die Röte um den Wundrand
geht zurück. Aber er ist immer noch nicht ganz bei Bewusstsein und fällt immer wieder in einen unruhigen Schlaf. Der Schmerz scheint seinen Verstand zu trüben. Ich klammere mich an ihn und fange an zu schluchzen. Ich schluchze, weil ich meine Familie verloren habe, weil ich meine beste Freundin betrogen habe, weil niemand für mich gesprochen hat und weil ich mich so sehr in Travis verliebt habe. Ich schluchze, weil mein Leben ganz und gar nicht so ist, wie ich es mir einmal vorgestellt habe. Ich schluchze, weil sich unser aller Leben nur nach den Ungeweihten richtet, dem Wald der tausend Augen, den Schwestern und den Wächtern. Und ich schluchze meinetwegen und wegen Travis und seinem gebrochenen Bein und weil er sich vielleicht nie wieder erholt – oder wenn doch, vielleicht nie wieder laufen kann. Und morgen fängt die nächste Stufe meiner Studien an, und ich fürchte, dann wird man mir nicht mehr erlauben, Travis zu besuchen.
Ich schluchze, weil das hier kein Leben ist. So sollte es nicht sein, und ich habe keine Ahnung, wie ich irgendetwas davon in Ordnung bringen kann.
Meine Tränen durchweichen das Kissen. Travis’ Wange und sein Hals sind jetzt nass, ich kann nicht aufhören und mache weiter, bis es mich schüttelt und mein Körper sich zuckend windet, wenn ich versuche, Luft in die Lungen zu saugen.
Und dann spüre ich eine Hand auf meinem Kopf. Ich schaue auf. Es ist Travis, er ist wach. Ob er verwirrt ist und sich fragt, was ich hier mache anstelle von Cass? Denn
Cass hat an seinem Bett gewacht und auf Cass hat er reagiert.
Doch dann flüstert er. »Alles wird wieder gut, Mary.« Er
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