The Forest - Wald der tausend Augen
Stelle unter meinem Kinn. Ihr Griff ist fest und beinahe schmerzhaft. Sie ruckt an mir, sodass ich ihr in die Augen schaue, die eine dunkle graugrüne Farbe haben, wie der Himmel bei einem Sommergewitter. »Das nächste Mal, wenn du deinen Mund zum Sprechen aufmachst, dann nur, um unseren Gott zu loben. Und sonst aus keinem anderen Grund«, sagt sie.
Es dauert eine Weile, bis ich den Sinn ihrer Worte begriffen habe. Begriffen habe, dass ich in Sicherheit bin. Dann nicke ich wie besessen, die Geräusche der Ungeweihten gehen mir unter die Haut. Sie tritt beiseite und hilft mir die Stufen hinunter. Stumm folge ich ihr durch den Tunnel bis zu dem höhlenartigen Raum, und als wir dann die Treppe zum Münster hinaufsteigen, wundere ich mich über die Kälte, die ich in Schwester Tabithas Augen gesehen habe. Ihr Blick schien meine Seele zu versengen. Diese Kälte spüre ich noch immer in mir, dabei hatte ich die Schwestern bis jetzt nur warmherzig gekannt.
Wir kehren in den Altarraum des Münsters zurück, und die Schwestern geleiten mich durch den Korridor zu dem Raum, den ich erst an diesem Morgen verlassen habe, dem Raum mit dem Blick auf den Wald und die Ungeweihten. Jetzt steht ein Schreibtisch unter dem Fenster und in der Ecke ein Schrank, in dem zwei schwarze Kutten hängen. In dem kleinen Kamin ist gegen die Kälte des nahenden Winters Feuer gemacht worden, aber ich kann die Wärme nicht spüren.
Ehe sie geht, drückt Schwester Tabitha mir die Schrift in die Hände. »Wenn du das fünf Mal gelesen hast, darfst du damit anfangen, dir Vergünstigungen zu verdienen«, sagt sie.
Und dann werde ich wieder allein gelassen, damit ich darüber nachdenken kann, welche Wahl ich habe.
Die Schrift ist ein Buch von mindestens zwei Handbreit Dicke, der Einband ist abgeschabt und rissig und die Seiten hauchdünn und voller kleiner Buchstaben. Ich lese an dem Tisch unter dem Fenster, wenn die Sonne scheint, und wenn die Sonne nicht scheint, starre ich ins Feuer und erinnere mich an meine Mutter.Was ich in der Schrift lese und was ich von unserem Leben hier weiß, versuche ich miteinander in Einklang zu bringen, und schließlich geht mir auf, dass es keine Antwort gibt.
Meine Welt kommt mir jetzt so klein vor. Der einzige Ort, an dem ich ohne Aufsicht sein darf, ist in den vier Wänden meines Zimmers. Mir fehlt es, auf dem Hügel zu stehen, vom Wind umweht, auf den Horizont zu starren und mich zu fragen, ob es hinter dem Wald noch etwas gibt. In manchen Nächten, wenn der Schlaf mir immer näher rückt, wandern meine Gedanken an die Zaunlinie, bis zu dem Tor, das den verbotenen Pfad schützt.Aber nicht mal in meinen Träumen gehe ich hindurch.
Die Wochen ziehen vorüber. Als der Winter sich bei uns einnistet und die Tage kürzer werden, verbringe ich immer weniger Zeit mit Lesen und immer mehr mit Nachdenken. Nachts starre ich aus meinem Fenster zu den Sternen hinauf. Ob die Ungeweihten den Wechsel der Temperaturen auch fühlen, frage ich mich? Ob meine Mutter wohl friert im Wald?
Zur Wintersonnenwende werden eines verschneiten Nachmittags meine Studien unterbrochen, Schreie gellen durch den Korridor vor meiner Tür. Ich renne zum Fenster und schaue hinaus. Haben die Ungeweihten nun schließlich doch die Zäune durchbrochen? Drängen sie schon ins Dorf? Aber in meinem Blickfeld ist alles ruhig und die Sirene bleibt stumm. Ich gehe an die Tür, presse das Ohr ans Holz und fürchte mich. Wenn innerhalb des Gebäudes irgendetwas schiefgegangen ist, bin ich in meinem kleinen Zimmer vielleicht sicherer. Dann fällt mir wieder ein, dass das Münster auch unser Hospital ist, die Schwestern sind die Bewahrerinnen der Heilkunst.
Aus den Schreien werden dringliche Stimmen, gedämpft, einzelne Worte kann ich nicht verstehen. Ein Mann schreit immer weiter, wie unter Schmerzen, und ich lehne mich gegen die Tür und lasse mich daran hinuntergleiten, bis ich auf dem Boden sitze.
Ich presse die Hände auf die Ohren, aber den Schmerz, die Stimmen und die Angst höre ich immer noch. Und dann lastet das Schweigen so schwer, dass ich fast davon erdrückt werde.
In dieser Nacht schlafe ich nicht. Stattdessen liege ich unter den Decken und lausche auf das Knarren und Stöhnen des Waldes, auf den Schnee, der sich auf unser Dorf legt, und auf die Schritte der Schwestern, die umherhuschen und ihren neuesten Patienten versorgen.
Unsere ganze Aufmerksamkeit ist auf die Gefahr gerichtet, die der Wald darstellt, und dabei vergessen wir, dass
Weitere Kostenlose Bücher