The Forest - Wald der tausend Augen
Boden
ist eingedrückt, wo zwei Knie vermutlich stundenlang geruht haben.
Ich setze mich auf das Bett, es knarrt leise unter mir, das stört den traumähnlichen Eindruck. Die Beine ziehe ich an und lehne mich zurück. Wer mag als Letztes hier geschlafen haben? Gabrielle? Oder Travis, als er so krank war? Eine Schwester, die auf irgendeine Bestrafung wartete?
Rastlos und auf Antworten versessen, gehe ich an den schmalen Tisch und zünde die Kerzen an, die um die Schrift herum aufgestellt sind. Obwohl ich das dicke Buch mit seinem rissigen Einband vor mir habe, schaue ich es mir nicht genauer an, denn meine Gedanken sind nach innen gerichtet. Geistesabwesend blättere ich durch die Seiten, ein Geräusch wie das Fallen von Herbstlaub. Aber ich sehe die Wörter nicht, die dort geschrieben stehen, ich starre daran vorbei, verloren in meiner eigenen Welt.
Bis mir klar wird, dass die Wörter auf den Seiten verkehrt aussehen. Diese Seiten sind auch zu eng beschrieben. Ich beuge mich tiefer über das Buch und sehe, dass alle Ränder, jeder freie Platz mit winziger schwarzer Schrift bedeckt ist. Die Wörter sind so klein, ich kann sie kaum erkennen, von der anderen Seite drückt die Tinte durch, sodass nicht viel zu entziffern ist.
Ich blättere zurück zur ersten Seite und mühe mich mit der rätselhaften Handschrift ab, blaue Tinte auf zwiebelhautdünnen gelben Seiten. Am Anfang , steht da, haben wir die Tragweite des Ganzen nicht begriffen .
Ich ziehe eine Kerze näher heran, aber aus dem übrigen Text werde ich nicht schlau. Ich blättere weiter durch das Buch, bemerke, wie die Handschrift sich ändert, die Tinte schwarz wird, die Schrift dichter und noch schwerer zu entziffern.
Und dann, mitten im Buch, hört es auf, mein Finger fährt über die Seite, und ich lese, was als Letztes dort geschrieben steht: Wie erwartet war völlige Isolation die Ursache für ihre ungeheure Kraft und Schnelligkeit. Gott möge uns helfen, wir werden sie in den Wald hinausschicken und sehen, wie lange sie durchhält, damit wir sie besser verstehen. Durch ihr Opfer werden wir stärker. Durch Seine Herrlichkeit werden wir überleben.
Dass ich den Atem anhalte, fällt mir erst auf, als ich keuchend nach Luft schnappen muss. Mein Körper zittert, in meinem Kopf wirbelt alles durcheinander. Ich kann gar nicht oft genug schlucken, die Tränen verschleiern mir trotzdem den Blick. Als ich vom Tisch zurücktrete, stolpere ich über den Teppich hinter mir und falle gegen die Tür, die zuknallt. Das Geräusch hallt den dunklen Gang entlang.
Ich bin gefangen, eingesperrt. Alles in mir kreischt und wieder schnappe ich nach Luft. Die Panik überwältigt mich an Ort und Stelle. Aus Gewohnheit und weil es mir ein Gefühl von Sicherheit gibt, streiche ich mit den Fingern über die Stelle direkt neben der Tür, an der sich eigentlich die Schrift befinden sollte. In die Innen- und Außenseite jeder zweiten Tür im Dorf haben die Schwestern die Worte geschnitzt. Normalerweise sind diese Stellen
glatt, weil sie jeden Tag von so vielen Händen berührt werden, aber hier ist das Holz der Türschwelle immer noch ganz rau – und das bringt mich in die Gegenwart zurück.
Ich schaue mir die Wörter genauer an und entdecke, dass hier gar nicht die Schrift zitiert wird. Das ist eine Namensliste. Und an unterster Stelle steht Gabrielle , die Schnitzerei ist tief und recht frisch.
Plötzlich verändert sich der Luftzug, als ob etwas zerplatzt wäre. Als ob von irgendwo ein leichter Luftstrom in den winzigen Raum gelangt ist. Mein Körper fängt an zu kribbeln vor Angst, ich könnte erwischt worden sein und müsste nun dasselbe Schicksal erleiden wie Gabrielle.
Ein Ruck an der Tür – und sie geht einen Spaltbreit auf. Erleichterung, nicht eingesperrt zu sein, durchflutet mich, und ich spähe hinaus auf den Gang. Dort ist nach wie vor alles pechschwarz und es riecht immer noch nach Wein. Keine Ahnung, wie lange ich schon hier unten bin. Eigentlich will ich unbedingt noch mehr lesen, aber damit gehe ich das Risiko ein, gefunden zu werden.
Ich überlege mir, die Schrift mitzunehmen, kann sie aber nirgendwo verstecken. Also schleiche ich mich aus dem kleinen Zimmer, schließe und sichere die Tür hinter mir, räume die zerbrochenen Flaschen weg, so gut ich kann, indem ich die größten Scherben hinter die Regale an der Wand schiebe. Mit dem Versprechen wiederzukommen mache ich mich dann auf den Weg zurück zu der verborgenen Tür. Dort drücke ich den Docht
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