The Forest - Wald der tausend Augen
die Beine an die Brust. Mein Atem klingt wie Schluchzen, ich presse die Hand auf meinen Mund, aber das kann dieses Geräusch
nicht unterdrücken, dieses hohe Keuchen, mit dem mein Körper nach Luft ringt.
Ich versuche, den Atem anzuhalten und nur auf die Stille um mich zu lauschen, zwischen den dröhnenden Herzschlägen, die meinen ganzen Körper erschüttern. Flüssiges gluckert aus den zerbrochenen Weinflaschen. Sonst nichts.
Ein scharfer Schmerz durchzuckt mich in meiner Panik und mit zitternden Fingern ziehe ich eine Glasscherbe aus meinem rechten Fuß. Mein Gesicht ist tränennass. Ich will nicht hier sein. Ich will das alles nicht. Gabrielle, die Schwestern, Harry oder Travis, sie sind mir jetzt alle egal. Alles auf dieser Welt ist mir jetzt egal.
Ich stelle mir vor, wie ich die schwere Holzluke über mir aufstoße und auf die Lichtung hinaustrete, wie ich auf die Zäune zugehe, das weiße Nachthemd flattert um meine Fesseln. Ich stelle mir meine Mutter vor, die da auf der anderen Seite wartet. Mit ausgestreckten Armen, bereit, mich zu empfangen.
Und ich lasse mich vom Schluchzen überwältigen. So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Zusammengekauert, dreckig und verängstigt in einem geheimen Tunnel unter dem Münster, in der Nacht vor meiner Bindung an einen Mann, den ich nicht liebe. Als Kind habe ich von Liebe und Sonnenschein in einer Welt hinter dem Wald geträumt. Ich habe vom Meer geträumt und von einem Ort, der unberührt von der Rückkehr war.
Und plötzlich frage ich mich, mit welchem Recht wir eigentlich glauben, dass unsere Kindheitsträume sich erfüllen werden. Mein ganzer Körper schmerzt bei diesem
Gedanken. Angesichts dieser Wahrheit. Es ist, als ob ich etwas Wichtiges aus mir herausgeschnitten hätte. Das Gefühl des Verlusts ist beinahe überwältigend. Beinahe genug, um mich zum Aufgeben zu bringen.
Meine Knochen scheinen meinen Körper nicht mehr aufrechthalten zu können. Anscheinend bestehe ich nur noch aus Blut, Tränen, Angst und Reue. Mir wird bewusst, dass mir drei Möglichkeiten zur Wahl stehen: einen Weg durch die Luke über meinem Kopf zu finden und selbst in den Wald gehen; hierzubleiben, bis Schwester Tabitha mich findet und in den Wald schickt; oder zu beenden, was ich angefangen habe, und in mein Leben zurückzukehren.
Ich stehe von der Treppe auf, zwinge mich, den Gang zurückzugehen, der so dunkel ist, dass ich durch schwarzes Wasser zu tauchen scheine. Die Erde unter meinen Füßen ist feucht, der Geruch des alten Weines brennt mir bitter und sauer auf der Zunge. Alle meine Muskeln sind angespannt, als ich durch die vor Kurzem geöffnete Tür in die Dunkelheit trete. Mir stockt der Atem bei der Vorstellung, Hände könnten aus dem Raum herausfahren und mich packen. Und da gebe ich dem Drang loszurennen nach, renne, bis ich hinter einer Biegung des Tunnels den Lichtschein der restlichen Kerzen neben der Tür zum Keller unter dem Münster sehe. Ich schnappe mir zwei und laufe den Weg zurück, den ich gekommen bin, durch die Scherben, deren scharfe Kanten im Kerzenschein blitzen.
Vor dem Raum bleibe ich zögernd stehen, mein Licht
dringt nicht über die Schwelle. Noch kann ich zurück. Noch kann ich die zerbrochenen Flaschen aufheben, die Tür wieder in die Scharniere hängen und ins Bett zurückgehen und so tun, als wäre das alles nur ein Traum gewesen.
Doch stattdessen hole ich tief Luft und zwinge mich, einen Schritt nach vorn zu tun.
12
D er Raum ist winzig, die Decke niedrig. An der Wand gegenüber steht eine Pritsche, über die sich straff eine alte, ausgeblichene Steppdecke spannt. Zu meiner Rechten ist ein schmaler Schreibtisch, auf dem ein dickes Buch aufgeschlagen liegt, bei dem es sich nur um die Schrift handeln kann. Darum herum stehen Kerzen. Auf der anderen Seite des Zimmers befindet sich ein großer Wandbehang, in den Seine heiligsten Worte eingewebt sind, darunter ein dünnes, ziemlich abgewetztes Kissen zum Knien und Beten. In der Mitte des Raumes wird der Boden von einem runden geknüpften Teppich bedeckt, der aus alten Kutten der Schwestern gefertigt zu sein scheint.
Mich verblüfft, wie normal dieser Raum ist, ganz so, als wäre das die Unterkunft einer x-beliebigen Schwester aus dem Münster. Wie ein Spiegelbild meines eigenen Zimmers oben. Ich streiche mit dem Finger über den weichen Stoff des Wandbehangs und frage mich, wie viele andere Hände diese Worte wohl schon berührt und dabei Trost gefunden haben mögen. Das Kissen auf dem
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