The Forest - Wald der tausend Augen
in den Raum hinein. Sie dreht sich um und mustert mich von Kopf bis Fuß mit ihrem scharfen Blick.
»Ich komme, um dich für die Bindung vorzubereiten«, sagt sie. »Und dir den Segen der Schwesternschaft zu geben.«
Am liebsten würde ich jetzt in mich zusammensinken, zu einem kleinen Häuflein Leere auf dem Fußboden werden. Mein Kopf ist ganz leicht, ich kann nicht klar sehen. Meine Kehle brennt, weil ich schreien und weinen will. Aber ich gestatte Schwester Tabitha nicht, irgendetwas davon zu bemerken, deshalb hebe ich das Kinn, schließe die Tür und finde Halt, indem ich mich mit der Hand an der Wand abstütze.
Wir sind allein in diesem kleinen Einzimmerhäuschen, das Harry und mich im ersten Jahr unserer Ehe beherbergen wird, so lange, bis wir Kinder haben und mehr Platz brauchen. Der Gedanke an Kinder mit Harry liegt mir wie ein Stein im Magen.
In den letzten paar Tagen hatte ich mir schon ausgemalt, wie die Kinder von Travis und mir einmal aussehen könnten und wie ihre kleinen Hände meinen Finger greifen würden. Ich hatte schon ein ganzes gemeinsames Leben mit Travis erträumt. Und das war nun das einzige
Leben, das wir je miteinander führen würden. Das Leben in meinen Träumen.
Schwester Tabitha und ich stehen uns steif gegenüber, bis sie ein klein wenig lächelt und einen Atemzug ausstößt, der klingt, als wolle sie lachen.
Sie schüttelt den Kopf. »Es gibt Dinge auf dieser Welt, die wir akzeptieren müssen, Mary. Dinge, in denen wir vielleicht jetzt keinen Sinn sehen, an die wir uns aber trotzdem halten müssen. Die uns heilig bleiben müssen, damit wir hoffen können weiterzubestehen.«
Sie geht hinüber zu dem schmalen Bett und stellt einen Korb auf die weiße Decke. Während sie weiterredet, packt sie den Inhalt aus. »Nimm zum Beispiel die Ungeweihten. Wir verstehen sie nicht. Wir wissen nur, dass sie hungern. Aber wir wissen auch, dass wir es dabei belassen müssen. Niemand in diesem Dorf hält sich noch damit auf, ihre Existenz in Frage zu stellen, obwohl ich mir sicher bin, dass unsere Vorfahren viel Zeit darauf verschwendet haben.«
Sie legt ein fein geflochtenes weißes Band bereit und holt dann die Schrift aus dem Korb. Das Band wickelt sie um das Buch, dabei setzt sie ihre Rede fort.
»Mit der Ehe ist es dasselbe. Unsere Vorfahren wussten, wie entscheidend unsere Fortpflanzung für unser Überleben war. Sie wussten, wie man starkes Erbgut erhält. Und nach Gewährleistung der Sicherheit und der Versorgung des Dorfes war das Erschaffen einer neuen Generation die wichtigste Aufgabe überhaupt.«
Damit trägt sie die zusammengebundene Schrift zu dem
kleinen Tisch auf meiner Seite des Zimmers und legt sie dorthin. Dann wendet sie sich der Feuerstelle zu, schürt die Glut und wirft kleine Stücke trockenes Holz hinein, bis die Scheite anfangen zu knistern.
Die Flammen fressen die Borke an, die sich rot gerändert rollt. Die Hitze dringt bis zu mir, kann mich jedoch nicht wärmen. »Es gibt etwas, was du über deine Mutter wissen solltest, Mary«, sagt sie und kniet sich vors Feuer. »Du solltest wissen, dass sie Kinder verloren hat.«
13
D as schockierte Keuchen schlucke ich hinunter, ich bemühe mich um eine unbeteiligte Miene. Ich denke nur daran, wie mein Bruder und ich mit Mutter und Vater vor dem Feuer gesessen haben, als wir klein waren. Das Schlaflied, das meine Mutter uns abends immer vorgesungen hat, höre ich noch.
Es zerreißt mich innerlich. Einerseits muss ich unbedingt mehr wissen, andererseits widert es mich an, dass ich mich Schwester Tabitha füge. Ihr gebe, was sie haben will, und mich ihren Wünschen unterordne. Ihrer Überlegenheit.
»Wann«, sage ich nur. Ich schlucke, räuspere mich. »Wann hat meine Mutter …« Ich kann den Satz nicht beenden, fürchte mich, diese Kluft zwischen dem Leben meiner Mutter und meinem eigenen zu überbrücken.
»Vor dir«, sagt sie. »Und nach dir.« Ich kann ihre Augen nicht sehen, frage mich aber, ob sich Mitgefühl in ihnen spiegelt. Ob sie traurig ist wegen der Babys, die meine Mutter verloren hat, und ob sie sich nutzlos vorkommt, weil sie die Fehlgeburten nicht verhindern konnte, obwohl sie unsere Heilerin ist.
Einen Augenblick lang kommt es mir so vor, als ob Schwester Tabitha und ich durch den Kummer meiner Mutter miteinander verbunden wären.
Sie steht auf und wendet sich zu mir um. »Viele, viele Male. So oft, dass es so aussah, als hättest du nie geboren werden sollen.«
Die Sympathie, die ich eben noch für
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