The Forest - Wald der tausend Augen
Schwester Tabitha empfunden habe, zerbricht in tausend Stücke, und das Stöhnen meiner Mutter an dem Tag, an dem sie sich gewandelt hat, gellt in meinen Ohren. Es überschwemmt mich, bis mir übel wird und ich es nicht mehr in diesem Raum, in der Nähe dieser Frau aushalten kann.
Aber ich halte die Stellung. Sie soll nicht sehen, was sie in mir angerichtet hat. Und sie geht wieder rüber zum Tisch und legt ihre Hände auf die Schrift. Dann kommt sie zu mir und stellt sich vor mich.
Sie sieht mir in die Augen, greift nach meiner rechten Hand. Nachdem sie das Band von der Schrift abgewickelt hat, windet sie es mir um das Handgelenk, indem sie um mich herumgeht. Am Ende jeder Runde knotet sie ein kompliziertes Muster in das Band und zwingt mich, die Treuegelübde zu wiederholen. Drei Mal machen wir das, drei Umwicklungen, drei Knoten, drei Schwüre.
Bei jeder Windung, jeder Bindung, jedem Wort entferne ich mich weiter von Travis, und ich muss mir auf die Lippen beißen, um nicht zu weinen.
»Jetzt bist du eine gebundene Frau, Mary. Und du hast Pflichten gegenüber deinem Mann, Gott und diesem Dorf. Es wird Zeit, dass du diese Pflichten wahrnimmst, Mary.
Es wird Zeit, dass du aufhörst, bei den Zäunen herumzuspielen. Da draußen ist nichts. Deine Mutter musste das auf die harte Art herausfinden, und man sollte doch meinen, dass dir das eine Lehre war.«
Ich will meinen Arm zurückziehen, aber sie hat mein Handgelenk fest gepackt.
»Ich habe alles für dich getan, was ich konnte, Mary. Ich habe dich über unseren Herrn unterrichtet. Aber du warst nicht glücklich. Ich habe dir einen Ehemann beschafft. Aber du bist nicht glücklich. Was denn noch, Mary? Muss das Dorf erst zerstört werden, damit du dein Glück findest? Damit du zufrieden bist mit dem Leben, das dir geschenkt wurde?«
Ihre Augen sind wie ein Sommergewitter. Mir prickelt der Schweiß auf der Haut, er rieselt mir den Rücken runter und durchnässt den dünnen Stoff meines Kleides.
Ich spüre ihren Atem auf meiner Wange und will von ihr abrücken, aber die Wand ist im Weg.
»Bete zu Gott, Mary.« Und sie fährt fort: »Bete, dass Er dir gnädig sein und dir ein Kind schenke möge, damit du etwas anderes als Eigenliebe erfahren kannst.« Während sie spricht, schüttelt sie den Kopf, ihre Stimme ist jetzt nur noch ein Flüstern. »Deine Mutter hat es getan, Mary. Was glaubst du denn, wie sie sonst zu dir gekommen wäre?«
Ich möchte sie schlagen, ich möchte mit all meiner Wut und dem Schmerz und dem Hass, der mich zerfrisst, auf ihren Körper eindreschen. Aber ich kann nicht. Denn plötzlich verabscheue ich nicht mehr Schwester Tabitha,
sondern mich selbst. Nie ist mir in den Sinn gekommen, dass meine Mutter Schwierigkeiten gehabt haben könnte, mich zu empfangen. Nie habe ich die Leichtigkeit in Frage gestellt, mit der ich glaubte, in ihr Leben getreten zu sein.
Die Erkenntnis meiner Eigensucht erschüttert mich. Diese Frau hier vor mir weiß mehr über meine Mutter, als ich je wusste oder wissen werde! Alle Geschichten, die meine Mutter an mich weitergegeben hat, steigen mir auf einmal in den Kopf. Nie habe ich mich gefragt, warum meine Mutter mir diese Geschichten erzählte. Nie habe ich mich gefragt, was ihr diese Legenden bedeuteten.
Nie habe ich mich gefragt, was meine Mutter glaubte. Was das für ein Leben war, das meine Mutter gelebt hatte, als sie so alt war wie ich. Und ich vermisse sie in diesem Moment so schmerzlich, dass ich mich vor Scham und Sehnsucht in mir verkriechen möchte.
Schwester Tabitha will noch mehr sagen, doch da klopft es an der Tür. Mein Herz macht einen Satz. Travis, denke ich. Endlich ist er gekommen. Mein Gesicht ist so nah an dem von Schwester Tabitha, dass ich sehe, wie ihr der Schweiß auf die Haut tritt. Einen Moment lang überlege ich, ob sie hören kann, was ich denke, ob sie spüren kann, wie mein Körper erwartungsvoll kribbelt. Sie lächelt wieder, ein schwaches Lächeln, dann weicht sie zurück. Harry betritt den Raum, und ich möchte weinen, als ich ihn hier sehe, die Wangen gerötet von der Abendluft, das Haar feucht und über den Ohren ein bisschen lockig.
Ich schaue an ihm vorbei in die Abenddämmerung hinaus und hoffe, einen Blick auf Travis zu erhaschen, hoffe, dass er da draußen gleich an der Ecke wartet. Mit den Augen suche ich jeden Schatten ab, aber da ist nichts – die Welt ist leer. Und dann ein Klick – und die Tür fällt zu.
In den Armen hält Harry einen zappelnden schwarzen
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