The Forest - Wald der tausend Augen
nach Luft ringt. Am liebsten möchte ich stehen bleiben, sie in den Arm nehmen und trösten, aber ich halte Jakobs Hand nur ein wenig fester.
»Warum ist die da so anders?«, will er von mir wissen. Sein Kinderstimmchen färbt ein kleines Lispeln. Er zeigt auf Gabrielle in ihrer grellroten Weste.
Ich schüttele den Kopf. Ich denke an die Gabrielle, die bei den Schwestern im Münster eingesperrt gewesen ist, daran, wie ich sie das letzte Mal gesehen habe – und wie ich gesucht und gesucht habe, sie aber nicht finden konnte. Ich denke an den Tunnel, die Türen, die von ihm abgingen, das kleine Zimmer, die handgeschriebenen Notizen in der Schrift. Die Frage will mir einfach nicht aus dem Sinn: Was haben die Schwestern Gabrielle angetan? Sie müssen die Ursache für diese Zerstörung sein.
Eine helle, bauschige Wolke dämpft das harsche Sonnenlicht über uns. Der Pfad weitet sich wieder und wir erreichen ein Tor, das die Zäune teilt. Über dem Zughebel befindet sich ein kleines Eisenschild mit den Buchstaben XIX. Einen Moment lang erinnert mich das an die Türrahmen in meinem Dorf, an die die Schwestern Worte aus der Schrift gekerbt haben. Ich lasse meine Hand über die Buchstaben gleiten, so wie ich gelernt habe, beim Betreten eines Raumes die Verse der Schrift zu würdigen.
Doch statt an Gott zu denken, wie wir es tun sollen, denke ich an Gabrielle.
Welche Beziehung mag zwischen den Buchstaben bestehen, die Gabrielle auf die Fensterscheibe geschrieben hat, denen auf der Truhe und diesen hier? Ich kann kein Muster erkennen. Und ich schaue zu der Stelle hinüber, an der sich Gabrielle mit einer wahnsinnigen Leidenschaft, wie wir sie noch nie bei Ungeweihten gesehen haben, gegen den Zaun wirft. Ich wünschte, ich könnte sie diese Dinge fragen, sie trösten, sie beruhigen und sie dann um Hilfe bitten.
Stattdessen greife ich nach dem heißen Metall des Hebels und will ziehen, doch da schnappt Cass nach Luft und tritt vor.
»Was machst du da?« Sie brüllt, weil sie Gabrielles Lärm übertönen muss. »Du weißt doch nicht, was da draußen ist. Wozu dieses Tor dient. Was ist, wenn auf der anderen Seite Ungeweihte sind? Mary, du würdest uns umbringen.«
»Wir haben keine Wahl«, antworte ich, ziehe – und das Tor schwingt beinahe geräuschlos auf. Ich staune, wie schwer es ist, und halte es auf, während die anderen langsam hindurchschlüpfen.
Jed hat den Arm schützend um Beth gelegt, und ich sehe schon, dass ihre Augen tiefer in die Höhlen gesunken und ihre Schritte unsicherer geworden sind. Ihr Haar hängt schlaff herunter. Ich will meinen Bruder festhalten und ihm sagen, dass er sich um sie kümmern muss. Dass sie zu gefährlich ist. Aber ehe ich eine Bemerkung machen
kann, schüttelt er schon den Kopf und sagt, alles sei unter Kontrolle.
Haben Harry und Travis die Veränderung an ihrer Schwester wahrgenommen? Wissen sie, was sie am Ende dieses Tages erwartet? Erkennen sie die Unausweichlichkeit des Ganzen?
Jed hat ihnen immer noch nicht erzählt, dass Beth infiziert ist, obwohl wir ihrem Tod mit jedem Schritt näher kommen.
Nachdem alle durchgeschlüpft sind, schließe ich das Tor leise wieder. Beim Sichern des Riegels finde ich eine weitere kleine Metalltafel auf dieser Seite des Tores. In die sind die Buchstaben XVII hineingeätzt worden, genau solche Buchstaben wie auf der Truhe. Ich versuche, das alles irgendwie zusammenzubringen, zu ergründen, was diese Buchstaben bedeuten, aber ich komme zu keinem Schluss. Kopfschüttelnd reibe ich mit dem Finger über das Metall. An der scharfen Kante schneide ich mir den Daumen.
Das Blut lutsche ich ab, dann drehe ich mich um und schließe mich den anderen wieder an. Wir sind noch nicht weit gegangen, als sich der Pfad gabelt und wir vor einer Entscheidung stehen. Argos trottet jeden Pfad ein Stück hinunter und schnüffelt wie besessen, ehe er sich mit seitlich aus dem Maul hängender Zunge vor meine Füße setzt.
»Wir können uns entweder trennen, sie auskundschaften oder einfach einen wählen«, sagt Harry mit den Händen auf den Hüften, als er den rechten Pfad hinunterspäht.
Wo die drei Pfade zusammenlaufen, ist eine kleine Lichtung. Beth hat die Gelegenheit genutzt und sich am Boden zusammengerollt, den Schal fest um die Schultern gewickelt, ihr Kopf ruht auf Jeds ausgestreckten Beinen.
Cass sitzt mit Jakob da, sie führt seine Hand und hilft ihm, Zahlen in den Sand zu schreiben.
»Das ist leicht«, sagt sie, ohne aufzuschauen. »Wir sollten den
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