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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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Äste. Schließlich bleibt Jed stehen und ich folge seinem Beispiel. Die anderen laufen weiter um eine Biegung, bald sehen wir sie nicht mehr und sind allein. Mein Bruder wirkt nervös, angespannt. Immerzu tritt er von einem Fuß auf den anderen, als ob er keine Ruhe finden könnte.

    Und als er dann endlich spricht, ist seine Stimme leise. »Mary, ich …« Er zögert und ich beobachte das Zucken um seinen Mund. Tränen laufen ihm die Wangen hinunter, sein Gesicht ist verzerrt. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagt er.
    Noch nie habe ich meinen Bruder weinen sehen, mein Herz fängt an zu rasen. Ich mache einen Schritt auf ihn zu, will ihn trösten, aber er streckt die Hand aus und hält mich auf Abstand.
    »Was ist denn los, Jed?«, frage ich. »Was stimmt denn nicht?«
    Er dreht sich zum Zaun und schüttelt den Kopf.
    »Jed?«, dränge ich.
    »Sie hat sich angesteckt. Beth ist …« Die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Er wischt sich mit der Hand übers Gesicht.
    Ich stolpere zurück, weg von ihm. Die ganze Zeit ist sie mitten unter uns gewesen. Und er hat es uns nicht gesagt.
    »Du musst sie töten!«, sage ich, bevor ich überlegt habe. Ich will ihn schon um Verzeihung bitten, da fällt er vor mir auf die Knie. Bettelnd packt er mein Hemd, und ich bin zu verblüfft, um ein Wort über die Lippen zu bringen.
    »Du verstehst das nicht«, sagt er. »Du hast keine Ahnung. Es ist ein kleiner Biss. Es ist nichts.Vielleicht ist sie nicht krank … vielleicht …« Seine Stimme versagt.
    Ich hocke mich vor ihn hin, sodass wir auf Augenhöhe sind. »Jed«, sage ich und bemühe mich um einen leisen,
beruhigenden Tonfall. »Du bist ein Wächter. Du weißt, was so ein Biss bedeutet. Du weißt, was Infektion heißt.«
    Er nickt, aber ich glaube, meine Worte sind nicht wirklich zu ihm durchgedrungen.
    Ich atme tief durch. »Du weißt, dass es keine Hoffnung gibt.«
    »Ich kann meine Frau nicht töten«, jammert er heiser. Hilflos lässt er sich zurückfallen, schlägt auf den Boden und brüllt vor Schmerz. Das bringt darniederliegende Ungeweihte dazu, sich zu erheben und Witterung aufzunehmen. Keine zwei Armeslängen entfernt, schlägt der erste schon gegen den Zaun, dann kommt noch einer dazu und ein weiterer.
    Ich höre den Lärm und sage dann: »Du kannst sie doch immer noch laufen lassen. Du kannst sie in den Wald schicken.«
    Jed fängt an zu lachen, leise und bitter. Ehe ich mich rühren kann, hat er mir die Hände um den Hals gelegt und rüttelt mich. Meine Beine verheddern sich in meinem Rock und ich falle gegen den Zaun, spüre, wie das rostige Metall in den Stoff eindringt. »So ist das also, Mary. Das gefällt dir wohl, was?« Das schwarze Haar steht wild nach allen Seiten ab, er bleckt die Zähne. »Ich bin wütend auf dich, weil du zugelassen hast, dass unsere Mutter eine von denen wird, und du bist jetzt voller Schadenfreude, weil meine Frau auch dazugehören wird?«
    Ich fühle Finger von Ungeweihten in meinem Haar und trete gegen den Zaun, dabei versuche ich zu schreien, aber Jed hat mir jeden Laut abgepresst. Ich schlage nach
ihm, verdrehe die Augen im Kopf und rieche nur noch Tod und Verfall. Ich bin verzweifelt. Plötzlich scheint er zu begreifen, was er tut, was er getan hat. Er lässt die Hände sinken.
    Ich sehe zu, dass ich wegkomme von ihm und dem Zaun, und stolpere den Pfad hinunter. Dabei reibe ich mir die geschundene Haut am Hals. Ich atme keuchend, Tränen brennen in meinen Augen, und mein ganzer Körper zittert vor Wut, die aus dem Entsetzen geboren ist, das ich eben erlebt habe.
    Nach ein paar Schritten höre ich ihn: »Mary, bitte.« Seine Stimme hat die Wildheit verloren. »Bitte, es tut mir leid. Es tut mir so leid.« Jetzt schluchzt er wie der kleine Junge, mit dem ich aufgewachsen bin. Ich bleibe stehen, gehe aber nicht zurück.
    »Ich will sie nicht verlieren«, sagt er. »Wenn du dich je verliebt hättest, würdest du das verstehen.«
    Ich wirble herum. »Erzähl mir nicht, was Liebe ist«, fahre ich ihn an. »Erzähl mir bloß nicht, was ich über Liebe weiß oder nicht weiß. Bei dir geht es jetzt nicht um Liebe. Du bist ein Wächter. Und als Wächter bist du dazu ausgebildet worden, Ungeweihte zu töten. Du hast uns alle in Gefahr gebracht, als du sie am Leben gelassen hast. Du kennst die Vorschriften.«
    Er reibt sich das Gesicht. Mit angezogenen Knien setzt er sich mitten auf den Pfad.
    »Liebe hat in unserem Dorf nie etwas bedeutet«, sagt er und schaut in den Wald hinaus.

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