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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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versuche, ihr Trost zu spenden.
    Einmal, damals im Dorf, habe ich mir vorgestellt, wie meine Kinder mit Travis wohl aussehen würden. Sie hätten mein dunkles Haar gehabt und seine grünen Augen und sie wären kräftig und gesund gewesen. Sie wären diesem Kind überhaupt nicht ähnlich – und trotzdem ist dieses
Gefühl, wie sie schwer in meinen Armen liegt, genauso wie ich es mir vorgestellt habe.
    Mit dem Finger streiche ich über ihre Stirn und den Nasenrücken. Cass hat mir das gezeigt bei ihrer kleinen Schwester, diesen Trick, mit dem man Babys zum Schlafen bringt. Aber dieses Kind wird niemals schlafen, wird niemals träumen, wird niemals lieben.
    Ich zittere, als ich Travis den Korridor entlanghumpeln höre. »Die anderen konnten sich auf die Plattformen retten, sie sind in Sicherheit«, sagt er, als er das Zimmer betritt. Er bleibt stehen, als er mich sieht, als er sieht, was ich in den Armen halte. Sein Gesicht verzerrt sich vor Grauen, als er begreift, wie wahr es ist.
    »Mary«, sagt er, streckt die Hand aus und will mich auf den Korridor hinauslocken. Er will sanft und beruhigend auf mich einreden, aber sein Ton ist angespannt. Ich spüre sein Zögern, kann fast schon hören, wie er mich anschreit, das doch bleiben zu lassen und wieder zur Vernunft zu kommen.
    Aber ich halte das Kind, summe, wiege es, und es wimmert seinen stummen Schrei.
    »Mary«, sagt er noch einmal, dieses Mal ist es eine Bitte. Er kommt auf mich zu und will mir die Kleine aus den Armen nehmen.
    Bevor er es tun kann, gehe ich, das weiche Bündel an mich gedrückt, ans Fenster. Ich halte es in der Armbeuge, während ich mit der freien Hand das Fenster aufschiebe. Kühle, frische Luft umweht mich und schwemmt den Gestank des Todes aus dem Raum. Ich lehne mich hinaus,
die Sonne brennt auf meine Haut und versengt meine Tränen.
    Und dann lasse ich das Baby los.
    Es fällt in die Menge der Ungeweihten unten, und ich kann weder sehen noch hören, dass es auf dem Boden aufkommt. Hoffentlich hat sein zartes Köpfchen den Sturz aus dem ersten Stock nicht überstanden, hoffentlich ist es endlich völlig tot. Aber selbst wenn es nicht so sein sollte, weiß ich doch, dass dieses Wesen keine Gefahr mehr für uns darstellt. Mein ganzer Körper bebt.
    Travis tritt hinter mich und legt mir die Arme um die Schultern, seine Hände zittern.
    Ich hebe einen Finger und lege ihn auf seine Wange. Unter seiner Haut pocht der starke Puls seines Herzens, ich spüre ihn. Und die Wärme. »Jetzt sind wir in Sicherheit«, sage ich.
    »Erzähl mir eine Geschichte, Mary«, murmelt er an meinem Ohr, sein Atem ein zarter Hauch, feucht und lebendig. Er schiebt mich zu dem kleinen Bett an der hinteren Wand.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch eine weiß.« Immer noch weine ich, er setzt sich und zieht mich an seine Seite.
    »Erzähl mir vom Meer«, drängt er. Seine Hand liegt auf meiner, er führt meine Finger an seinen Mund. Seine Lippen umschließen meinen Daumen. Ich erinnere mich an seine erste Nacht im Münster, daran, wie ich ihn mit Schnee gefüttert habe und wie sich sein glutheißer Mund auf meinen eisigen Fingern angefühlt hat. Ich erinnere
mich, wie mein Körper zum ersten Mal aufgetaut ist, ich mich wirklich lebendig gefühlt habe. Und ich erlaube mir, die Anspannung, die Angst und den Schmerz der letzten Tage loszulassen, und lehne mich an seinen starken Körper.
    Ich erlaube mir, wieder Hoffnung zu schöpfen.
    »Ich fürchte, das gibt es vielleicht gar nicht.« Meine Stimme bricht.
    Er rutscht an die Wand und zieht mich neben sich, bis ich schließlich an ihn geschmiegt daliege. Ich spüre seinen heißen Atem im Nacken, das Zittern seiner Lippen auf meiner Haut. Seine Arme halten mich ganz fest, meine Hände sind in seinen geborgen und sein Daumen streicht mir übers Handgelenk.
    Ich erlaube mir, die Welt, in der wir leben, zu vergessen. Ich vergesse unser Dorf und dieses neue Dorf und die Schwesternschaft, den Pfad und den Wald. Ich denke nicht an die Ungeweihten oder meinen Bruder, nicht daran, an Harry gebunden zu sein, oder an meine beste Freundin.
    Wir sind allein in einem Haus, das es schon vor der Rückkehr gegeben haben könnte und sie überdauern könnte. Es existiert in einer Zeit, die normal ist und nicht belastet von Tod, Überleben und Angst.
    Diesen Augenblick nur möchte ich an das Leben denken und an uns und sonst nichts.

23
    O ffensichtlich haben die Gründer dieses Dorfes die Bedrohung vor den Zäunen wirklich

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