The Forest - Wald der tausend Augen
eingeschlossen – wie das Echo meines klopfenden Herzens. Obwohl ich weiß, dass ich auf Travis warten sollte, schlucke ich meine Angst runter und öffne die Tür einen Spaltbreit, bereit, die Hände Ungeweihter abzuwehren.
Aber da ist nichts. Nur das Klopfen, das jetzt lauter klingt, weil es keine Barriere mehr gibt.
Ich lasse die Tür ganz aufschwingen und bin erstaunt,
wie hell dieser Raum ist. Durch ein großes Fenster kann das Sonnenlicht auf einen ausgebleichten Teppich fallen. An einer Wand steht ein kleines Bett mit einer Flickendecke in Blau- und Gelbtönen. Darüber hängt ein Bild von einem Baum mit saftigen grünen Blättern.
Ich drehe mich um, weil ich hinter die Tür schauen will, und dann sehe ich, woher das Klopfen kommt. In der Ecke steht eine weiße Wiege mit einem weißen Spitzenhimmel. Ich will nicht mehr wissen, muss aber trotzdem näher herangehen und über den Rand schauen.
Da liegt ein Kind, ein Baby, das vor langer Zeit schon seine Decke weggestrampelt hat. Die Haut des kleinen Mädchens ist aschfahl und sein Mund steht offen zu einem ewigen, wenn auch stummen Schrei. Sie ist noch nicht alt genug, um sich drehen zu können, sich aufzusetzen, zu klettern. Deshalb liegt sie da und tritt mit ihren fetten Beinchen gegen das Fußende der Wiege. Ewig schreit sie nach ihrer Mutter. Nach Nahrung.
Nach Fleisch.
Ihre Augen sind zugekniffen, und doch weiß ich, dass sie eine Ungeweihte ist. Ich erkenne es daran, dass kein Blut durch ihren Körper fließt, die weiche Stelle auf ihrem Kopf pulsiert nicht mehr. An der schlaffen Haut. Am Geruch.
Und weil das Kind nicht so lange in diesem Dorf hätte durchhalten können, wenn es noch am Leben gewesen wäre. Sie streckt einen nackten Fuß in die Luft, und ich sehe die Bissspuren, die Wunden, die ringförmig ihre Ferse umspannen und ihr das angetan haben.
Ich stehe da und starre sie an. Noch nie habe ich ein Ungeweihtes Baby gesehen. Ich sollte Mitleid empfinden. Ich sollte irgendwas empfinden, das mich zu diesem hilflosen Kind hinzieht, irgendeinem verborgenen mütterlichen Instinkt folgen. Ich sollte ihre schmutzigen Kleider wechseln, sie versorgen wollen.
Vor Erschöpfung fangen meine Beine an zu zittern, die Welt um mich herum gerät ins Schwanken und ich muss mich an der Wiege festhalten. Argos läuft winselnd vor der Tür hin und her, mit gesträubtem Nackenhaar und gebleckten Zähnen. Der Raum stinkt nach Tod, das benebelt meine Sinne, steigt mir in den Kopf – er mag das nicht, wenn ich der von den Ungeweihten ausgehenden Gefahr so nah komme.
Und doch ist da dieses Kind mit dem zum stummen Schrei aufgerissenen Mund, seinem eifrigen Strampeln. Seiner himmelschreienden Bedürftigkeit.
Ich habe Bedürfnisse so satt. Das Bedürfnis nach Überleben, Essen, Sicherheit und Bequemlichkeit. Ich will nur Ruhe und Schlaf. Frieden. Einen Moment lang denke ich daran, dem Neugeborenen einen Finger in den Mund zu stecken, alles zu beenden und mich den Ungeweihten zu ergeben.
Ich denke an die Entscheidung, die meine Mutter getroffen hat, sich meinem Vater im Wald anzuschließen. Ich habe immer geglaubt, sie hätte sich versehentlich angesteckt, in einem ungestümen Gefühlsausbruch, nachdem sie meinen Vater hinter den Zäunen erspäht hatte. Nun bin ich mir nicht mehr so sicher. Nun frage ich
mich, ob sie nicht einfach aufgegeben hat, ob der Kampf um Leben und Hoffnung sie nicht letztendlich untergekriegt hat.
Tief in meinem Körper schlägt diese Erkenntnis Funken, Hitze lodert in mir auf, und es kommt mir vor, als würden meine Fingerspitzen in Flammen stehen. Rasende Wut packt mich. Auf meine Mutter, auf mich selbst, auf unsere bloße Existenz, die immer von den Ungeweihten eingeschränkt worden ist.
Ich atme tief durch, dann ziehe ich die Decke von der Wiege und breite sie auf dem Boden aus. Vorsichtig nehme ich die Kleine auf, stütze ihren Kopf, und für einen ganz kurzen Moment dreht sie mir ihr Gesicht zu, als wäre sie gesund, als wäre ich ihre Mutter – und ich spüre, wie mir die Tränen über die Wangen laufen.
Dieses Kind könnte das meines Bruders sein. Es könnte das meiner Mutter sein. Es könnte das Kind von Travis und mir sein. Jemand war ihr Vater. Jemand hat sie einmal so gehalten, wie ich sie jetzt halte.
Ich knie mich neben die Decke und lege das Baby in die Mitte, meine Tränen klecksen dunkle Ringe auf den Stoff. Ich summe, dabei wickele ich die Ecken sorgfältig um sie, packe die Kleine und schmiege sie an mich. Ich
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