The Forest - Wald der tausend Augen
diesem Dorf die Leute nicht dazu verpflichtet, die Schrift einzukerben? Plötzlich geht mir auf, dass es in diesem Haus keine Bank zum Knien gibt, auch keine Wandteppiche mit Seinen Gebeten. Dieses Haus enthält nichts von Gott. Diese Einsicht erschreckt mich.Wie konnte eine derartige Gotteslästerung in diesem Dorfes zugelassen werden? Solche Freiheit?
Nur einen kurzen Augenblick frage ich mich, ob die Schwestern in diesem Dorf vielleicht nicht so eine starke Kontrolle ausgeübt haben.Vielleicht haben sie gar nicht kontrolliert?
Ich lehne mich ans Geländer und starre nach unten auf die drängelnde Masse der Ungeweihten. Keiner trägt die Gewänder der Schwesternschaft, fällt mir auf, keiner trägt eine Kutte. Ich schaue mir die Gebäude ringsum an, keins ist mit den Insignien Gottes versehen. Und es ist auch nirgendwo ein Münster zu entdecken.
Mir schwirrt der Kopf, weil ich dieses neue Dorf verstehen will, weil ich herausfinden will, ob Gott an diesem
Ort nicht anwesend war – oder ob nur die Schwesternschaft fehlte. Und ich suche eine Antwort auf die Frage, ob es möglich ist, ohne die Schwesternschaft an Gott zu glauben.
Mir wird schwindelig und ich setze mich. Meine Füße baumeln vom Balkon und schaukeln in der Luft, dadurch verliere ich umso mehr den Boden unter den Füßen. Ein Leben ohne die Schwesternschaft, ohne ihre ständige Präsenz und Wachsamkeit, kenne ich gar nicht. Mir ist nie in den Sinn gekommen, dass man Gott von der Schwesternschaft trennen könnte, dass die beiden nicht immer so fest miteinander verwoben waren, dass die Existenz des einen ohne das andere möglich sein könnte.
Der Gedanke erschreckt mich, ich atme flach und hastig.
Aus dem Augenwinkel sehe ich etwas blitzen. Das holt mich aus meinen Offenbarungen. Ich erkenne Harry, der nicht weit entfernt auf seiner Plattform in den Bäumen steht. Die Welt um mich herum hört auf sich zu drehen. Ich stehe auf und schütze meine Augen mit der Hand vor der Sonne, damit ich meine Umgebung besser erkennen kann.
Ein großer Baum fällt mir auf, der auf der ungepflasterten Seite vor dem Haus liegt, zwischen Harrys Plattform und meiner Terrasse. Früher muss dieses Haus einmal zu dem ausgeklügelten System von Baumhäusern gehört haben, von den Brettern unter meinen Füßen hängen nämlich immer noch Seile herunter. Sie baumeln von der Terrasse, dort, wo das Geländer fehlt, bis nach unten auf den Boden, wo die Ungeweihten drauftrampeln.
Wie es aussieht, waren diese Taue einmal Teil einer Seilbrücke über die Lücke hinweg. Dieses Haus, unser Haus, ist wahrscheinlich der Ausgangspunkt des ganzen Systems gewesen. Und jetzt sind wir aufgrund einer unbekannten Ursache, entweder natürlich oder unnatürlich, außen vor, losgelöst.
Ob es für Travis und mich wohl eine Möglichkeit gibt, zu den anderen hinüberzukommen? Oder könnten sie einen Weg zu unserem Haus finden? Könnte man die Brücke, die der umgestürzte Baum zerrissen hat, vielleicht wieder reparieren? Bei dem Gedanken gerät mein Herz kurz aus dem Takt, meine Zweisamkeit mit Travis will ich nicht so bald aufgeben.
Harry winkt mir zu und ich winke zurück.Wir stehen da und schauen einander eine Zeitlang an, ehe mir auffällt, dass ich mir das Handgelenk reibe, die Stelle, an der die Bindung mir die Haut wundgescheuert hat, an der immer noch Schorfsprenkel sind.
Er will mir etwas mitteilen, aber auf die Entfernung und bei dem ständigen Gestöhne der Ungeweihten verstehe ich ihn nicht. Ich zucke die Achseln und lege die Hand hinter mein Ohr. Er formt mit den Händen einen Trichter vor seinem Mund und ruft noch mal. Ich schüttele den Kopf. Er wedelt mit der Hand, gibt auf, als ob es nicht wichtig gewesen wäre, was er zu sagen hatte.
Nach einer Weile geht er wieder über die Plattform zurück zu seinem Baumhaus, wo Cass, Jed und Jakob auf ihn warten. Ich sehe eine Rauchwolke aus dem Schornstein steigen und frage mich, ob sie sich auch ihr eigenes
Leben geschaffen haben. Ob sie einen Weg gefunden haben, in diesem neuen Dorf glücklich zu sein, so wie Travis und ich.
Bald schlüpfe ich zurück auf den Dachboden, meine Handfläche streicht über die glatte Wand neben der Tür. Gewohnheiten verlieren sich nicht so leicht und Abwesenheit kann meine Finger nicht am Suchen hindern.
Die Tage vergehen. Immer mehr gehören Travis und ich einer anderen Welt an. Wir verbringen den größten Teil unseres Lebens oben, wo wir die Fenster für Licht und Luft offen stehen lassen.Wieder
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