The Forest - Wald der tausend Augen
über die Metallplatte und male mit dem Finger die Buchstaben nach: XIV. In meiner Vorstellung fahren meine Finger über eine Fensterscheibe im Münster, sie folgen dem Pfad, den Gabrielle für mich vorgezeichnet hat: XIV.
Das sind ihre Buchstaben. Das ist ihr Pfad.
»Bevor wir weitergehen, sollten wir rasten«, sagt Harry. Aber ich zerre schon am Hebel und ziehe das Tor auf. Hinter mir höre ich Protest, aber mir rauscht das Blut in den Ohren. Ich kann nicht auf sie warten. Ich kann nicht rasten.
Ich laufe den Pfad hinunter, meine Beine sind immer noch schwach, aber mein Geist treibt sie voran. Die anderen kann ich hinter mir hören, Cass kreischt, dass sie nicht mehr weiterlaufen will.Wir sollen sie in Ruhe lassen.
Aber ich warte nicht.
Die Nachmittagssonne gleitet auf den Horizont zu, als ich in die Knie gezwungen werde, mein Atem geht schwer,
mein Körper rebelliert, ist kraftlos, völlig erschöpft. Keuchend holen die anderen mich ein.
»Hier muss es sein«, sage ich.
Und durch die Bäume sehe ich das Dorf.
22
D a sind keine Leute. Aus den Häusern steigt kein Rauch auf. Die mächtigen Plattformen in den Bäumen sind leer, die Leitern liegen am Boden, durch ihre Sprossen wuchert Unkraut. Die Welt hier ist geräuschlos. Bewegungslos. Leblos.
Solange wir den Pfad entlanggegangen sind, war das Gestöhn der Ungeweihten ständig präsent. Wenn man so ein Geräusch pausenlos im Kopf hat, muss das Gehirn einen Ort finden, an dem es die unablässige Erinnerung an den Tod speichert. Und deshalb wird das Stöhnen zu harmlosem Summen, einem Begleitrhythmus für das Leben.
Vielleicht bemerkt deshalb keiner von uns, wie der Klang dieses Summens sich verändert, sich verstärkt, harmonischer wird. Wie der Klang uns einschließt, näher rückt, bis wir von ihm eingeschlossen sind.
Fasziniert von diesem neuen, aber leeren Ort geht jedoch jeder von uns nur seinen eigenen Weg. »Essen!«, sagt Jakob in heller Aufregung. Er macht sich los von Cass’ verhungerter Hand und rennt auf das nächstgelegene Gebäude zu.
Cass ruft ihn schwach, ihre Stimme ist kratzig vom Wassermangel, dann stolpert sie hinter ihm her.
Keiner hält sie zurück, wir anderen gehen weiter ins Dorf hinein. Obwohl alles leer ist, wirkt dieser Ort bewohnter als unser Dorf. Hier sind die Straßen breiter und nach einem Raster angelegt. Die Häuser sind größer und solider. Eine Straße ist dem Handel vorbehalten, Schilder über jeder Türöffnung verkünden, welche Waren es drinnen gibt. Sie schaukeln in der Brise.
Wir gehen eine Straße entlang, die die Hauptstraße zu sein scheint. Harry und Jed steuern auf ein Gebäude zu, um das Waffen herumstehen, und sie lassen Travis und mich allein unsere neue Umgebung bestaunen.
Ich schaue auf und bemerke, dass es hier zwar ebenso wie in unserem Dorf Plattformen in den Bäumen gibt, auf denen man Zuflucht suchen kann, wenn der Zaun durchbrochen worden ist.Anders als in unserem Dorf sind diese Plattformen aber bebaut: Es gibt Häuser, Verbindungen zu anderen Plattformen, Seile und Zugbrücken. Ganz so, als würde in den Bäumen eine Kopie des Dorfes auf dem Boden existieren, eine Spiegelung.
Den Kopf in den Nacken gelegt, stehe ich staunend da, als ein Sonnenstrahl durch die Knospen der Bäume bricht und mein Gesicht betupft. Sehnsucht und Frieden erfüllen mich. Ich schließe die Augen und lausche dem Wind, der durch die Zweige weht, geknotete Seile an Baumstämme stößt und irgendwo in einem nahegelegenen Haus kaum hörbar eine Tür gegen die Wand schlagen lässt.
Alle meine Sinne sind auf die Welt um mich herum gerichtet, und doch bemerke ich das Anschwellen des Gestöhns nicht.
Bis ich jemanden schreien höre. Bis ich meinen Bruder rufen höre: »Lauft!« Bis Travis mich am Arm packt. Das Geräusch von splitterndem Glas dringt an mein Ohr.
Aus Hauseingängen stolpern sie hinaus in die Sonne. Die Ungeweihten, die in diesem Dorf so lange darauf gewartet haben, dass lebendiges Fleisch eintrifft, schieben brüchige Zäune beiseite, brechen durch staubige Fenster. Alles, um uns zu fassen zu kriegen.
Ich laufe auf die nächste Plattform zu, aber Travis hält mich zurück. »Die Leiter«, sagt er, seine Finger drücken sich tief in meinen Arm. »Mein Bein. Das schaffe ich nicht.«
Zunächst begreife ich das nicht, aber dann zerrt er mich von der Straße weg auf das Tor und den Pfad zu. Zurück in die bekannte Welt, die sicher und frei von Ungeweihten ist. Dahin zurück, wo wir hergekommen
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