The Forest - Wald der tausend Augen
einmal wird das Stöhnen der Ungeweihten zum festen Bestandteil all unserer Tage, der ständige Lärm wird als Summen in den Hinterkopf verbannt.
Nur ganz selten, wenn ich auf den Balkon klettere und zu meinem Bruder, meinem Verlobten und meiner besten Freundin hinüberschaue, frage ich mich, ob sie auch so ein Leben leben wie ich, in einer häuslichen Ruhe, die vor der unmittelbaren Gefahr hinter unseren Türen die Augen verschließt.
Einmal frage ich Travis beinahe, warum er mich nicht geholt hat, damals im Dorf. Ich sitze ihm gegenüber am Tisch, unser Gespräch ist abgebrochen, und ich will die Antwort unbedingt wissen, ich will wissen, wie mein Leben ohne den Durchbruch gewesen wäre. Ich sammele meine Gedanken, der Schmerz des Wartens ist wieder
ganz frisch. Aber dann lächelt er mich an, nimmt meine Hand – ich spüre seine rauen Handballen auf der Haut -, und mir wird klar, dass es keine Rolle mehr spielt. Denn jetzt sind wir zusammen. Und ich will die Harmonie nicht stören, die wir gefunden haben.
Wir finden einen Rhythmus. Argos verbringt seine Tage dösend an wechselnden Schlafplätzen. Travis kümmert sich um die Sicherung des Hauses und ich sorge für unser leibliches Wohl. Die Welt endet an unserer Tür und dort enden auch unsere Verpflichtungen gegenüber anderen. Hier, in unserem Haus, gibt es nur uns und unser gemeinsames Leben – und für eine Weile ist das herrlich.
Bis ich eines Tages von der Dachterrasse komme und plötzlich vor den Truhen auf der anderen Seite des Bodenraumes stehe. Zum ersten Mal fühle ich mich zu ihnen hingezogen. Ich lege meine Hand auf das glatte Holz und der Zedernholzduft steigt mir zu Kopf.
Obwohl ich weiß, dass niemand hinter mir stehen kann – Travis kommt die Leiter nicht hoch -, drehe ich mich um und versichere mich, dass ich wirklich unbeobachtet bin. Dann schiebe ich vorsichtig den Schnappverschluss der obersten Kiste auf dem Stapel hoch.
Sie ist voller Kleider und ich lächele, denn ich freue mich, eine Zerstreuung für diesen Nachmittag gefunden zu haben. Stück für Stück nehme ich die Kleider heraus, die mit Perlen besetzt oder komplizierten Mustern bestickt sind. Jedes wurde für die Lagerung sorgfältig gefaltet. Und alle habe sie verschiedene Farben, manche sind hell, manche gedeckt, manche Farbtöne habe ich noch
nie zuvor gesehen. Der Stoff ist weich und durchscheinend, und in die Röcke ist feines, steifes Material eingearbeitet, damit sie besser fallen, dicker sind und schwingen.
Ich halte mir jedes Kleid an.Was muss das für ein Gefühl sein, sich so in Schönheit zu hüllen? Ich kann einfach nicht anders, ich muss diese Kleider anprobieren. Zuerst ist das wie ein Rausch, mir wird ganz schwindelig, als ich den fremdartigen Stoff auf der Haut spüre.
Aber dann fange ich an zu spekulieren, welche Frau diese Kleider einmal getragen haben mag und warum. Tagelang lebe ich nun schon in diesem Haus, und immer habe ich mir verboten, mir die früheren Bewohner vorzustellen. Seit ich das Baby aus dem Fenster fallen ließ, habe ich mir nicht erlaubt,Vermutungen über die Kinder anzustellen, die einmal unten am Tisch gegessen haben, die Männer, die die Waffen hergestellt, die Frau, die Obst und Gemüse eingekocht und sich mit solcher Umsicht auf eine Belagerung vorbereitet hat, die sie nie ertragen musste, weil sie da längst tot war.
Und jetzt trage ich ihre Kleider und werde von ihren Erinnerungen heimgesucht. Ich weiß, sie war größer als ich, denn ihre Kleider fallen über meine nackten Füße und schleifen über den staubigen Fußboden. Ich weiß, sie hatte einen größeren Busen als ich, vielleicht wegen der Kinder. Ich weiß, ihre Arme waren dicker als meine, denn ihre Ärmel verschlucken meine Handgelenke.
Aber ich weiß nicht, was sie sich vorgestellt hat, als sie in diesem Kleid herumwirbelte. Welcher Mann ihr seine
warme Hand auf den Rücken legte, ihre Haut zum Kribbeln brachte und die Lider zum Klimpern.
Plötzlich wird mir ganz schwindelig. All meine Gedanken stürzen auf einmal auf mich ein und ich muss diese Dinge wissen. In den Kleidern dieser Frau laufe ich zurück auf den Balkon, knie mich hin und lasse den Blick über die Ungeweihten unter mir schweifen. Ich mustere die Arme der Frauen genau, ihre Taillen, die Handgelenke.
Welche von ihnen hat den Kopf durch dieses Kleid gesteckt? Welche mit den Händen über den Stoff gestrichen? Welche mag das Baby zur Welt gebracht, die Kinder aufgezogen und in dem Bett gelegen haben, in
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