The Forest - Wald der tausend Augen
heraus und schwinge sie weiter, Blut tropft von der Klinge. Immer wieder hole ich aus und bringe die Ungeweihten zu Fall, die den Flur bevölkern.
Dann bleibt die Axt auf der anderen Seite des Flures in der Wand stecken. Wieder will ich sie herausziehen, der Schaft ist klebrig vom Blut, da werde ich abgelenkt.
Ein Mädchen in meinem Alter steht oben auf der Treppe. Sie trägt eine grellrote Weste, genau wie Gabrielles. Meine Hand erschlafft, ich verliere an Schwung und Konzentration.
Und ich zögere ein wenig zu lange.
An meinem Fuß zerrt etwas. Ich stolpere zurück und trete um mich. Die Axt rutscht mir aus der Hand. Ohne ihren Halt gerate ich aus dem Gleichgewicht.
Ich falle.
Eine Hand packt meine Fessel.
Ich schreie und trete und ziehe mich auf den Handballen über den Flur zurück. Noch mehr Hände an Fü-ßen und Beinen. Unablässiges Gezerre. Die Ungeweihten strömen immer weiter die Treppe hinauf, sie schlurfen auf mich zu, stolpern über die Körper der wahrhaft Toten, die ich umgebracht habe, sind aber trotzdem hinter mir her.
Ich kann nur eine Welle Ungeweihter sehen, die über mir bricht, fühle mich ihnen hilflos ausgeliefert und bin darauf vorbereitet, in die Fluten ihres Willens geschleudert zu werden. In diesem Moment frage ich mich, ob ich Schmerz empfinden werde. Ob noch irgendetwas von mir übrig bleiben wird für die Rückkehr. Und ob mein Hunger nach Menschenfleisch wohl eben so stark sein wird wie mein Hunger nach dem Meer.
Ich möchte die Augen schließen und es einfach kommen lassen. Soll das Ende mich holen und davontragen, mich im Meer der Ungeweihten ertränken. Aber ich höre meinen Namen, während ein Gefühl wie tausend Bienenstiche meine Beine hinaufläuft. Ich weigere mich, auch nur einen Blick auf die Quelle dieses Schmerzes zu werfen, ich will die Ungeweihten Zähne nicht sehen, die in mein Fleisch eindringen und die Infektion tief in meinen Körper leiten. Stattdessen schaue ich auf. Da steht Travis auf der Leiter, den Mund zum Schrei geöffnet, die Augen weit aufgerissen.
Er streckt mir eine Hand entgegen und ich recke mich nach ihm, sehne mich danach, seine Fingerspitzen zu berühren,
da bewegt sich etwas oben auf dem Dachboden. Ehe ich weiß, was los ist, befinde ich mich in einem Wirbel aus Fell und Fängen. Krallen fassen Fuß auf dem Holz, und dann dröhnt ein wütendes Knurren durch den Flur, als Argos auf die Ungeweihten an meinen Füßen losgeht.
Er legt sich unheimlich ins Zeug, zerrt mit dem Maul an den Leibern und reißt sie auseinander.
Plötzlich bin ich frei, ich haste zur Leiter und meine Hand berührt die von Travis. Er ist erst auf der Hälfte des Aufstiegs und ich nehme zwei Sprossen auf einmal, bis ich unmittelbar unter ihm bin. Dann stemme ich mich mit der Kraft der dem Tod soeben Entronnenen gegen ihn und katapultiere ihn geradezu auf den Dachboden. Unter mir kämpft Argos noch immer gegen die Ungeweihten, das Gestöhn schwillt an, weil es immer mehr werden. Ich höre ein Aufjaulen und sehe, dass Argos rückwärts auf mich zukommt. Ohne nachzudenken, rutsche ich die Leiter hinunter und packe ihn am Nackenfell. Sofort lässt er sich ganz schlaff hängen, als ob er wüsste, dass ich ihn fallen lassen könnte, wenn er zu sehr zappelt. Gemeinsam erreichen wir den Dachboden.
Travis knallt die schwere Luke zu, dann sichert er sie mit dicken Bolzen. Blutverschmiert und zitternd fängt Argos an, mir die Beine zu lecken. Travis muss ihn wegschubsen, um an mich ranzukommen.
Er hockt sich vor mich hin, auf die Hände gestützt, sitze ich mit angezogenen Knien da. Ich habe Angst davor, ihm in die Augen zu sehen. Stattdessen schauen wir beide
auf meine Füße und Beine, die voller Blut sind, mein Rock ist zerfetzt.
»Bist du gebissen worden?« Er kann diese Worte kaum aussprechen. Hektisch streichen seine Finger über meine Haut, tastend versucht er,Wunden aufzuspüren.
»Weiß ich nicht«, sage ich.
»Bist du gebissen worden?«, brüllt er mich an, und ich brülle zurück. »Ich weiß es nicht!«
Er hält inne, schaut immer noch auf das ganze Blut, etwas davon tropft auf den Boden.
Mit beiden Händen nimmt er meine Waden, seine Finger umschließen den Muskel. Dann macht er die Augen zu, als ob er so irgendwie spüren könnte, ob die Infektion der Ungeweihten schon mein System zerfrisst. Und mich tötet.
»Ich liebe dich, Mary«, sagt er, und da lasse ich die Tränen fließen. Die großen Schluchzer der Angst und des Schmerzes schütteln meinen Körper,
Weitere Kostenlose Bücher