The Forest - Wald der tausend Augen
Wunde.
Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf.Wie sie aufzuhalten sind. Wie sie zu bekämpfen sind. Wohin wir flüchten sollen.Wie wir uns verstecken können.Wie überleben.Travis’ Bein und Argos und die Leiter und der Dachboden.
Schwerfällig stolpert Travis den Flur entlang, er versucht, sein schlimmes Bein zu belasten. »Laken!«, rufe ich ihm zu. »Schnapp dir Laken!«
Er stellt keine Fragen, sondern geht in eines der Schlafzimmer. Ich laufe in ein anderes und zerre die Matratze vom Bett. Sie ist schwer und sperrig, ich verschwende ein paar Minuten damit, sie aus der Tür zu bugsieren. Aber dann bin ich wieder auf dem Flur, und ich schubse das Ding die Treppe hinunter, um den Vorstoß der Ungeweihten auf unsere Stellung aufzuhalten.
Doch sie werden dran vorbeikommen. Sie pressen sich mit solcher Kraft dagegen, dass sie irgendwann darüber hinwegschwappen. Ihre ungelenken Körper werden die Treppen hochdrängen bis ins nächste Stockwerk und dann greifen sie uns wieder an.
Ich renne den Flur entlang zu Travis und nehme ihm die Laken ab. Eines werfe ich über Argos, der immer noch knurrt und jault und zittert. Ohne mich damit aufzuhalten, ihn zu beruhigen, ziehe ich die Enden des Lakens zusammen und verknote sie. Argos ist jetzt gefangen, ein zappelndes Bündel aus Zähnen und Krallen.
Ich werfe mir das Paket über die Schulter und kämpfe mich die Leiter zum Dachboden hoch. Dort lasse ich den Hund auf den Boden fallen. Mit gesträubtem Fell befreit er sich und verkriecht sich in eine Ecke. Seine Augen sind weit aufgerissen, die Ohren angelegt.
Unten an der Leiter steht Travis. Alle Zeit scheint sich in diesem einen Punkt zu konzentrieren, mein Herzschlag ist der einzige Hinweis darauf, dass immer noch Zeit vergeht. Die Ungeweihten scharen sich um die Matratze, rutschen den Flur entlang. Langsam bewegen sie sich auf Travis und die Leiter zu.
Seine Hand liegt auf einer Sprosse, die Finger umschließen locker das Holz. Er wirft einen flüchtigen Blick über die Schulter, während die Ungeweihten ihm auf den Pelz rücken.
Ich will runterklettern und ihm helfen. Doch er schüttelt den Kopf, ein entschiedenes Nein.
Da ich nicht weiß, was ich sonst machen soll, haste
ich zu den Waffen, die an der Wand aufgereiht sind, und packe eine Axt mit langem Stiel und blanker Klinge. Die schleppe ich zur Luke und reiche sie Travis runter.
Er schaut zu mir hoch, seine Hand liegt nicht mehr auf der Sprosse. Ich habe vergessen, wie grün seine Augen sein können. Dass seine Iris einen hellbraunen Rand hat. Dass unter seiner linken Augenbraue eine Narbe versteckt ist.
Dass sein Blick mir das Gefühl geben kann, eins mit mir zu sein.
Ehe er mich daran hindern kann, springe ich aus der Luke, mit der Leiter halte ich mich gar nicht erst auf. Mit einem Plumps lande ich neben ihm und gehe in die Knie, so heftig ist der Aufprall.
Ich entwinde Travis die Axt und drehe mich zu den Ungeweihten um. Travis brülle ich zu: »Sieh zu, dass du die Leiter hochkommst, aber schnell!« Als ich merke, dass er Einwände erheben will, packe ich die Axt mit beiden Händen und stürze mich den Flur hinunter.
Noch nie in meinem Leben habe ich einen Menschen getötet. Auf einem Balkon zu sitzen und Pfeile auf die Ungeweihten am Boden abzuschießen, ist eine Sache, aber zu spüren, wie eine Klinge durchs Fleisch schneidet, ist etwas ganz anderes. Denn obwohl man genau weiß, dass die Ungeweihten keine lebenden Menschen mehr sind, wehrt sich das Bewusstsein trotzdem noch gegen die Wahrheit und beharrt darauf, dass die Frau, der Mann, das Kind, die einem entgegenkommen, immer noch irgendetwas Menschliches an sich haben müssen.
Besonders gilt das bei Ungeweihten, die noch nicht lange in diesem Zustand sind. Die noch keine Gliedma-ßen und kein Fleisch an die Zeit oder den Wald verloren haben. Die sich beim Versuch, durch Zäune und Türen zu dringen, noch nicht die Finger gebrochen haben. Wenn eine schwangere Frau, deren Körper noch immer rund und fest ist, deren Augen noch klar sind, auf einen zugeht, und man weiß, sie ist tot und muss dennoch endgültig getötet werden, dann braucht man dazu eine nahezu unvorstellbar starken Willen.
Und doch hole ich aus. Mit all meiner Kraft schwinge ich die Axt im Flur, trenne Köpfe von Hälsen und enthaupte Ungeweihte, um ihre verzweifelte Existenz zu beenden. Ich merke nicht einmal, dass ich dabei schreie, bis ich nach Luft schnappen muss. Die Axt steckt in der Wand fest und ich zerre sie
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