The Forest - Wald der tausend Augen
ich.
»Du warst Harrys.«
»Nicht immer.«
»Doch, immer«, sagt er. »In seinen Augen immer«, fügt er milder hinzu.
Ich laufe vor der Tür auf und ab, dann erweitere ich die Strecke, bis ich schließlich den ganzen Raum einbeziehe. »Warum hast du dir was aus meinen Geschichten gemacht?«, frage ich dann.
»Weil du es auch wusstest. Du wusstest von der Welt da draußen. Hinter den Zäunen.«
»Na und?«
»Diesen Glauben habe ich gebraucht. Ich brauche dieses …« Er zuckt die Achseln. »Vertrauen.«
»Das verstehe ich immer noch nicht«, sage ich.
Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und erschreckt sowohl Argos als auch mich. »Ich bin an diesem Tag auf den Turm geklettert, um mich vom Wald zu verabschieden. Ich wollte diese Träume aufgeben und das Leben akzeptieren, das ich gewählt hatte. Ich wollte die Welt vor den Zäunen vergessen. Und ich wollte dich vergessen.«
Ich bleibe stehen. »Was ist passiert?«
»Es war eisig kalt. Ich war leichtsinnig. Ich dachte an dich und deine Geschichten vom Meer, an die du immer so fest geglaubt hast.« Er legt Argos die Hand auf den Kopf. Mich schaut er nicht an, als er sagt: »Ich bin ausgerutscht.«
Mit einem Plumps falle ich auf einen Stuhl. »Das habe ich nicht gewusst.«
Er schüttelt den Kopf und wendet den Blick nicht von Argos ab. »Als ich mir das Bein gerade gebrochen hatte, habe ich vor Schmerzen fantasiert. Ich dachte, der Sturz sei Gottes Strafe für mich, weil ich mehr wollte. Weil ich nicht zufrieden war mit der Wahl, die ich getroffen hatte.Weil ich gewagt hatte, mir ein Leben außerhalb des Waldes vorzustellen.«
Er schaut auf und sieht mir in die Augen. »Da war ich bereit, alles aufzugeben. Seinen Weg zu gehen, ganz gleich, was er mit sich bringen mochte. Aber dann bist du Nacht
für Nacht in mein Zimmer gekommen. Du hast mir vom Meer erzählt und mich durch den Schmerz getragen, und ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Ich wusste nicht, ob man mich in Versuchung führte oder mir den rechten Weg zeigte.«
Er wischt sich mit den Händen übers Gesicht. »Versteh doch, dass Harry dich immer geliebt hat. Dass er alles tun würde für dich.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das genug ist«, sage ich.
Sein Mundwinkel zuckt, als wollte er lächeln. »Ich bin mir auch nicht sicher, ob einer von uns für dich je genug sein wird, Mary«, sagt er.
Ich weiß, jetzt hofft er, ich sage, er irre sich. Das erkenne ich an der Art, wie er den Atem anhält und darauf wartet, dass ich ihn korrigiere.
Doch ich schaue nur wieder zur Tür mit den Splittern und Rissen, die unter dem Gewicht der Ungeweihten ächzt. Niemals werden sie aufhören, zu schieben und zu versuchen, in unsere Welt einzudringen. Niemals wird das aufhören, bis auch wir alle tot sind.
Ein Zittern erfasst mich, ich klopfe mit der Hand auf mein Bein, damit Argos kommt und mich tröstet. Aber er weicht Travis nicht von der Seite, legt den Kopf auf Travis’ Schoß und starrt mich mit großen braunen Augen an.
Ich erinnere mich nur an das Warten. Mit jedem Atemzug und Herzschlag habe ich darauf gewartet, dass er mich holen kommt. »Wenn ich das doch gewusst hätte, Travis«, sage ich. »Wenn ich das doch verstanden hätte.«
»Ich weiß«, sagt er. Denn so ist es. Er kennt meine Wünsche besser als ich.
Dann denke ich an meine Mutter. Meine Mutter, die mit Geschichten vom Meer aufgewachsen ist, die sie dann an mich weitergegeben hat, und die doch nie selbst aufgebrochen ist, um es zu suchen. Sie hat an diese Geschichten geglaubt. Mit Leidenschaft hat sie sie weitererzählt, mit einem Zittern in der Stimme hat sie von der Zeit vor der Rückkehr gesprochen. Und wie sie dieses Foto von unseren Vorfahren in den Wellen an sich gedrückt hat …
Und ich habe sie nie gefragt, warum sie nicht weggegangen ist.Warum sie sich nie auf die Suche nach dem Meer gemacht hat.Warum sie diese Geschichten nur weitergegeben hat, ohne Anweisungen, was mit der Ungeheuerlichkeit der Erinnerungen zu geschehen hat, abgesehen davon, dass wir sie selbst weitergeben.
Ob sie unseretwegen nicht weggegangen ist? Wegen Jed und mir? Aber in meinem Herzen weiß ich, dass dies nicht der Fall ist. Mein Vater war der Grund dafür, dass sie sich nicht auf die Suche nach dem Meer gemacht hat. Denn er war genug für sie. Genug, um sie ihr ganzes Leben lang zufrieden innerhalb der Zäune zu halten.
Bis er dann derjenige auf der anderen Seite war. Erst da hat sie das Dorf verlassen, erst da ist sie dieses
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