The Homelanders - Im Visier des Todes (Bd. 4) (German Edition)
der Wärter.
»Wie kann ich Sie erreichen?«
Er schüttelte den Kopf. »Gar nicht.«
»Aber …« Ich starrte ihm verzweifelt hinterher. »An wen kann ich mich wenden, wenn ich Hilfe brauche?«
Wieder war der Anflug eines Lächelns in seinem Mundwinkel zu erkennen. »Du weißt doch, wie man betet, nicht wahr?«
6
A DVENT
Selbst in Abingdon konnte man spüren, dass es auf Weihnachten zuging. Etwas lag in der Luft – außer der üblichen Spannung, dem Schrecken und der Wut, meine ich. Täglich gab es weniger Streitereien und Prügeleien auf dem Hof, und immer mehr Häftlinge sprachen von Besuch. Sogar diejenigen, zu denen das ganze Jahr keiner kam, erhielten jetzt welchen. Und in der Post waren Weihnachtskarten, mit denen die Gefangenen die Wände in ihren Zellen dekorierten.
Die Heilsarmee führte eine Aktion durch, die sich Engelsbaum nannte. Jedes Jahr zu Weihnachten durften sich die Häftlinge Geschenke für ihre Kinder wünschen. Diese Wünsche wurden dann aufgeschrieben und wie Schmuck an Weihnachtsbäume in den Einkaufszentren im ganzen Land verteilt. Passanten konnten diesen Christbaumschmuck abnehmen und die Geschenke kaufen, die die Heilsarmee dann den Kindern brachte. Den Häftlingen gefiel diese Aktion sehr und sie diskutierten darüber, was sie sich für ihre Kinder wünschen sollten. So konnten sie wenigstens für eine Weile an etwas anderes denken als die endlosen Tage, die sie in diesem Loch eingesperrt waren.
Für mich machte Weihnachten alles nur noch schlimmer. Ständig musste ich an zu Hause denken, an meine Mom undmeinen Dad und an meine Freunde. Immer wieder erinnerte ich mich daran, was wir an Weihnachten machten. Nichts Besonderes, nur das eben, was alle tun. Aber wenn man es nicht mehr hat … wenn plötzlich eine Mauer, Gitterstäbe, Stacheldraht und Wachtürme zwischen dir, einem Glas Eierpunsch und Charles Dickens’ »Weihnachtsgeschichte« stehen; zwischen dir und deiner Schwester, die an Heiligabend so überdreht ist, dass sie schließlich mit Kopfschmerzen auf ihrem Zimmer verschwindet; zwischen dir und deiner Mom, die sich Sorgen macht, der Baum könnte in Flammen aufgehen; zwischen dir und den Liedern im Radio, die man einfach mögen muss, auch wenn sie noch aus einer Zeit stammen, als Dinosaurier die Erde bevölkerten … Wenn du eingesperrt bist, erscheinen dir all diese dämlichen normalen Dinge ziemlich außergewöhnlich und schön. Und du vermisst sie wie verrückt.
Aber ich hatte nicht viel Gelegenheit, darüber nachzudenken. Stattdessen beobachtete ich wachsam, was um mich herum vorging. Es war nur eine Frage der Zeit, bis wieder jemand versuchen würde, mich umzubringen.
Dann endlich war Samstag, mein erster Besuchstag. Meine Mom und mein Dad würden kommen. Und Beth. Ich war sehr aufgeregt und ging in meiner Zelle auf und ab: eineinhalb Schritte von der hinteren Wand bis zur Gittertür und wieder zurück. Der Morgen verging noch langsamer als sonst.
Endlich kam der Wärter, um mich abzuholen. Er brachte mich in einen Raum mit einer langen Reihe von Fenstern, die in die Ziegelwand eingelassen waren. Vor jedem Fenster stand ein niedriger Holzhocker, und an den kleinen Trennwändendazwischen hingen schwarze Telefonhörer. Ein Schild an der Wand trug die Aufschrift: »Hände müssen immer sichtbar sein.«
Der Wärter führte mich zu einem Hocker vor einem der mittleren Fenster. Links und rechts von mir saß bereits je ein Häftling. Sie redeten mit Personen auf der anderen Seite und lehnten sich dicht an das Plexiglas, um wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu haben.
Ich setzte mich und wartete. Da draußen sah ich die geöffnete Tür zu einem Gang und stellte mir vor, wie jemand das Gefängnis verließ. Frei. Einfach so. Aber dieser Jemand war nicht ich.
Die Minuten vergingen quälend langsam. Schließlich sah ich meine Mom und meinen Dad über den Gang auf mich zukommen.
Ich hatte erwartet, dass ich mich freuen würde, sie zu sehen. Und das tat ich auch. Aber gleichzeitig war es auch schmerzhaft. Es tat mir im Herzen weh, Moms Erschöpfung und ihre roten Augen zu sehen. Als hätte sie ein Jahr lang geweint – seit dieser Albtraum begonnen hatte. Mein Dad sah besser aus. Jedenfalls besser als zu dem Zeitpunkt, als ich verhaftet wurde und ihn im Fernsehen gesehen hatte. Damals kannte er die Wahrheit noch nicht. Aber inzwischen hatten Beth und meine Freunde ihm und Mom erklärt, was es mit den Homelanders auf sich hatte. Auch wenn sie nicht die ganze
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