The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
von meinem Leben in Beijing zu nehmen.
Dann aber war ich mit meinem Nachbarn Xiaohei und ein paar anderen Freunden bis in die frühen Morgenstunden im Feuertopfrestaurant geblieben, weil niemand so richtig Lust gehabt hatte, nach Hause zu gehen. Essen türmte sich auf unserem Tisch, und überall standen Bier- und Colaflaschen.
»Wenn du nicht schnell genug läufst, komm ich mit dem Auto vorbei und treib dich ein bisschen an!«, sagte Xiaohei irgendwann und hob lachend den Zeigefinger. »Pass auf dich auf, ja,Alter?«
Es ist kurz nach elf, die anderen schlafen wahrscheinlich noch ihren Rausch aus, und ich stehe in meiner Unterhose am Fenster und fühle mich müde und aufgekratzt zugleich. Heute soll es endlich losgehen, nach so vielen Monaten des Wartens und Planens. Ich beschließe, den Tag wie jeden anderen mit einer Dusche zu beginnen.
Im Wohnzimmer liegen meine Sachen auf dem Fußboden verteilt: der große Rucksack, die Packtaschen mit der Kleidung, die beiden Schlafsäcke, das Zelt, die Isomatte, der kleine Rucksack mit dem Laptop, die beiden Kamerataschen, die Wanderstöcke und der Beutel mit Batterien, Medikamenten und dem restlichen Kleinkram. Ich hänge mein nasses Handtuch an den Haken und stelle mich auf die Waage, die ich mir vor ein paar Tagen gekauft habe.
Der Zeiger schlägt weit aus, schwingt wieder zurück und pendelt sich ungefähr bei hundert ein. Habe ich es doch noch geschafft? Bin ich zum wandelnden Doppelzentner geworden? Ich beuge mich nach unten, um das Ergebnis genauer ablesen zu können. Exakt neunundneunzig Kilo bringe ich auf die Waage. Was für eine Enttäuschung! Kurz spiele ich mit dem Gedanken, eine große Menge Tee zu trinken, doch dann verwerfe ich die Idee als billige Schummelei. Außerdem habe ich gar keine Zeit für solche Albernheiten, mein Geschenk wartet auf mich.
Ich schlüpfe in das T-Shirt, glätte sorgfältig alle Falten und ziehe dann Pullover und Hose darüber. Dann kommen die Socken, die mit dem R für rechts und dem L für links. Ich schnüre die Schuhe fest zu, damit sie gut sitzen und ich mir nicht zu schnell die Füße wund laufe. Der Schmerz wird schon noch früh genug kommen.
Nachdem ich den Rucksack gepackt habe und noch zweimal durch die Wohnung gegangen bin, um sicherzugehen, dass auch wirklich nichts fehlt, ziehe ich meine Jacke an, streiche noch einmal alle Falten glatt und hänge mir die Kamerataschen rechts und links über die Schultern. Jetzt der Rucksack, an dem Zelt,Isomatte und Wanderstöcke hängen. Ich stapfe ein paarmal probehalber durch den Raum und bleibe am Kühlschrank stehen, um Wasserflaschen, Schokoriegel und Bananen herauszunehmen und in die Außentaschen des Rucksacks zu stecken. Dann stelle ich mich noch einmal auf die Waage: 127 Kilo. Ach du Scheiße. Ich fange an zu schwitzen. Sollte ich vielleicht doch erst einmal auf der Couch Platz nehmen und in Ruhe ein paar Bananen essen, bevor ich mich auf die Reise begebe? Doch gerade als ich den Rucksack abstreifen will, wird mir klar, dass ich ernsthaft Gefahr laufe, heute überhaupt nicht mehr loszugehen.
Ich bin frisch rasiert, und meine Haare sind geschnitten. Ich bilde mir ein, dass meine Augen voll freudiger Erwartung glänzen müssten, und verdränge, dass ich vorhin im Spiegel die Angst aus ihnen habe hervorlugen sehen. Ich kann es nicht länger aufschieben. Es muss sein, jetzt.
Große Schritte tragen mich zur Wohnungstür, meine Hand drückt den Griff hinunter. Noch einmal drehe ich mich um und betrachte die Wohnung, in die bald jemand Fremdes einziehen wird: die rote Couch mit den Spuren kulinarischer und erotischer Höhepunkte, den Fernseher, den Kühlschrank mit dem Wasserspender obendrauf, den leeren Schreibtisch, auf dem der Wohnungsschlüssel blitzt. Ein Schritt, und ich stehe im Flur. Eine Handbewegung, und die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Ich biege um die Ecke zum Fahrstuhl, vorbei an der Wand, an die jemand vor einiger Zeit riesengroß auf Chinesisch geschrieben hat: »Billige Schlampen für Leike!« und daneben: »Fotzen, die es mit Ausländern treiben!«
Leike, das ist mein chinesischer Name. Meine Sprachpartnerin Kati aus Taiwan hatte ihn mir damals in München herausgesucht, bevor ich zum ersten Mal nach China gefahren bin. Ich wollte einen, der sich männlich anhört, und einfach zu schreiben sollte er sein. »Also, am besten wir machen es folgendermaßen«, sagte Kati. »Dein Nachname ist Rehage, davon nehmen wir die erste Silbe und suchen ein chinesisches
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