The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
»Soll ich es dir vielleicht auch noch vorlesen?«
Einige der umstehenden Bauern kichern, und die Warnweste blickt ein wenig bekümmert drein. Der Schlüsselbund hat beschlossen, meine Frechheit zu ignorieren, und ist mit der Lektüre meiner Papiere beschäftigt. Ich schaue den Wolken zu, die unaufhaltsam über die Wüste rollen.
»Deutscher?«, fragt er.
»Ja.«
»Von wo nach wo unterwegs?«
»Von Beijing nach Ürümqi.«
»Alles zu Fuß?«
»Ja.«
»Hm … kein anderes Verkehrsmittel?«
»Nein.« Ich denke an die blaue Gurke, das alte Lastenfahrrad, mit dem ich wenige Wochen zuvor mit meinem Bruder durch die Wüste gepoltert bin.
Er macht eine Pause, offensichtlich muss er seine Gedanken kurz sortieren, dann geht es weiter. »Wie lange insgesamt in China?«
»Drei Jahre.«
»Was gemacht?«
»Studieren.«
»In Beijing?«
»Ja.«
»Hier steht aber«, sagt er, blättert noch einmal nach und blitzt mich an, »das Visum wurde in Qingdao ausgestellt!«
Qingdao ist eine Stadt im Osten des Landes, weit entfernt von Beijing und meiner Marschroute. Ich war zwar seit Jahren nicht mehr da, beschließe aber, das Gespräch durch eine Lüge zu vereinfachen. »Ja, richtig, schöne Stadt! Das Visum habe ich während des Urlaubs dort beantragt!«
Muss ja nicht jeder erfahren, dass ich mir meinen Aufenthalt in China durch einen Bekannten mit ominösen »Geschäftskontakten« in Beijing verlängern lassen musste, weil die Visavergabe während der Olympischen Sommerspiele so beschränkt war.
Der Schlüsselbund guckt misstrauisch, doch dann wendet er sich anderen wichtigen Themen zu. »Was ist hier drin?«, fragt er und zeigt auf den Karren.
»Kleidung, Schlafsack, Essen, Wasser – was man auf dem Weg so braucht.«
»Und das da, ist das ein Zelt?«
»Ja.«
»Campieren ist verboten!«
»Ich hasse Zelten sowieso.«
»Ist dieser Wagen aus Deutschland?«, fragt der Schlüsselbund weiter, und einen Moment lang weiß ich nicht mal, was er meint. Der Karren soll aus Deutschland sein? Aber da wollte ich doch ursprünglich hin, bevor alles aus dem Ruder lief.
»Nein, der Wagen ist aus Zhangye«, antworte ich und zeige auf die Straße hinter mir. Einige der Bauern recken tatsächlich die Köpfe und stieren einen Moment lang in Richtung Horizont, als ob sie wirklich Herrn Wang in seiner Schweißerwerkstatt am anderen Ende der Wüste Gobi entdecken könnten.
»Sind wir jetzt endlich fertig?«, frage ich entnervt. »Ich habe heute noch ein Stück Weg vor mir!«
»Geh zurück in die Stadt«, befiehlt der Schlüsselbund und gibt mir meinen Pass.
Ich explodiere: »Ich gehe jetzt weiter, egal, was ihr erzählt! Ich bin über Schneeberge und durch Sandstürme gekommen, euer Wind hier macht mir gar nichts aus!«
»Geh zurück!«
»Nein!«
»Doch!«
Und dann passiert es. Eine Beleidigung über die Mütter der Polizisten entfliegt meinem Mund.
Plötzlich werden alle sehr ernst.
»Entschuldigung, das wollte ich nicht«, sage ich. Der Schlüsselbund steht einen Moment lang still vor mir und guckt mich an.
Ich fange an zu weinen.
»Sag so etwas nie wieder«, donnert er, »und schon gar nicht zu einem Polizisten!« Und dann: »Was ist überhaupt los mit dir?«
HERBST
LOSGEHEN
9. November 2007: Beijing
Ein Kreischen reißt mich aus meinen Träumen. Ich schiebe die Schlafmaske von den Augen und bin für einen Moment geblendet: Die Sonne wirft helle Muster an die Wand meines Zimmers, und mir ist warm, obwohl ich mich in der Nacht von der Bettdecke freigestrampelt habe. Es muss schon fast Mittag sein, beinahe hätte ich mein eigenes Geburtstagsgeschenk verschlafen.
Ich springe auf, renne zum Fenster und blicke in einen blauen Himmel, den nur zwei zarte Kondensstreifen durchziehen: ein seltener Anblick im ewigen Grau dieser Riesenstadt. Zwanzig Stockwerke unter mir rattert ein Passagierzug durch die Flachdachsiedlungen, und wieder ertönt das schrille Geräusch, das sich zwischen den Hochhäusern mit tausendfachem Echo bricht. Ich beobachte, wie unten an den Gleisen jemand schnell die Wäsche von der Leine nimmt, ehe der Zug herandonnert. Heute werde ich sechsundzwanzig, eigentlich wollte ich schon längst zu einer Wanderung um die halbe Welt aufgebrochen sein.
»Vor sieben Uhr werde ich das Haus verlassen, solange die Sonne noch nicht aufgegangen ist und die Stadt noch schläft«, hatte ich gestern Abend feierlich verkündet, in dem Gefühl, dass ein Aufbruch im Morgengrauen die einzig passende Weise wäre, um Abschied
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