The Lost
fesseln, Lizzy. Keine Sorge, er wird die Schnur schon nicht zu fest ziehen. So weiß ich wenigstens, dass du mir nicht abhaust. Hey, ich tu dir schon nichts.«
Die Frau blickte zu Sally. »Warum nicht sie ? Warum ich ?«
Ray wandte sich um und schaute ebenfalls zu Sally hinüber. Er musterte sie von oben bis unten.
Jennifer hoffte inständig, dass er sie niemals so ansah.
Es war, als würde er in Sally hineinblicken, als würde er die Angst in ihr suchen. Als wäre die Angst ein Organ wie das Herz, die Lunge oder die Vagina. Er ließ sich Zeit.
»Oh, für Sally hab ich was Besonderes geplant. Es würde dir nicht gefallen, Lizzie. Und Ken auch nicht. Aber ich muss schon sagen, ich finde es ganz schön gemein von dir, so was vorzuschlagen. Und jetzt setz dich verdammt nochmal hin! «
Er richtete die Waffe auf Ken, der Lauf war kaum dreißig Zentimeter von seiner Stirn entfernt, und sie verstand ihn kaum, als er erneut etwas sagte.
»Sonst knall ich Daddy ab. Mit dem Revolver, der früher mal Daddys Daddy gehört hat. Wie findest du das? Das stimmt tatsächlich! Die Smith & Wesson hat früher deinem Vater gehört, Kenny. Und das Gewehr auch. Weißt du noch, wie vor ein paar Jahren das Haus verwüstet wurde? Das war ich. Ich und mein Kumpel Timmy, der heute leider nicht hier sein kann. Lizzie, bitte setz dich.«
Die Frau holte tief Luft und fuhr sich über die Wangen, ging um den Stuhl herum und nahm darauf Platz.
»Braves Mädchen. So ist es viel besser. Da, sie hat sich hingesetzt. Kenny?«
Der Mann zögerte, doch dann bückte er sich und hob die zu einer Kugel zusammengerollte Schnur auf. Einen Moment lang hielt er sie in der Hand, als wäre sie ein völlig unbekanntes Objekt. Er wickelte mehrere Armlängen ab, zog ein Schweizer Armeemesser aus der Tasche, klappte die Klinge auf und schnitt das dünne Seil durch.
Sie fragte sich, ob die Klinge lang genug war, um damit einen Menschen zu erstechen.
Er ging zu seiner Frau hinüber, zögerte, schaute ihr in die Augen.
Und dann stand er einfach nur da.
»Kenny? Hey, Kenneth? Du wirst doch jetzt keine Steve-McQueen-Nummer abziehen, oder?«
Der Mann hielt immer noch das aufgeklappte Taschenmesser in der Hand, von der anderen baumelte die Schnur.
Er stand da und sah seine Frau an. Seine Augen waren die traurigsten, die sie je bei einem Menschen gesehen hatte.
Als wüsste er, was als Nächstes geschehen würde.
»Das war’s, Kenny. Ich mag dich sowieso nicht.«
Es folgte ein Geräusch, als würde im Zimmer eine Bombe explodieren, und dann verwandelte sich der Hinterkopf des Mannes in Matsch; er klatschte neben ihm an die vergilbte weiße Wand. Der Mann fiel seiner kreischenden Frau in den Schoß. Sie versuchte ihn festzuhalten, doch er rutschte ihr aus den Händen und blieb in der Fötushaltung auf dem Boden liegen. Plötzlich regte sich neben ihr etwas, und Jennifer sah, wie Sally zur Tür stürmte. Ray war mit einem einzigen langen Schritt bei ihr und schlug ihr den Revolverlauf seitlich gegen den Kopf, so dass sie an die Wand geschleudert wurde und zu Boden sank …
… und Katherine dachte: Du verdammter Dreckskerl, du! Glaubst du etwa, du hättest gewonnen? Meinst du wirklich, ich würde hier untätig herumsitzen? Und dann sprang sie mitsamt dem Stuhl auf; die Handschellen schnitten in ihre Handgelenke. Trotz der Schmerzen wirbelte sie blitzschnell herum und rammte Ray mit voller Wucht die Stuhlbeine in die Kniekehlen. Sie hörte, wie er aufstöhnte und zu Boden ging, hörte, wie der Revolver gegen die Dielen schlug, und sie wusste genau, was sie tun musste. Sie hatte die verglasten Schiebetüren am Flurende gesehen, als sie sich an die Wand stellen musste, und jetzt sprintete sie auf die Türen zu, um durch die verdammte Scheibe zu springen und …
… Jennifer sah, wie Ray stürzte. Fluchend drehte er sich um und gab zwei weitere Schüsse ab, und dann sah sie, wie Katherine samt Stuhl der Länge nach hinfiel und wie sich auf ihrem Rücken ein riesiger roter Fleck ausbreitete, als hätte man ihr rote Tinte über das Hemd gekippt. Mit dem Gesicht nach unten lag Katherine auf dem blanken Parkettboden; sie zuckte ein paarmal, und dann regte sie sich nicht mehr.
All das nahm sie mit einem einzigen Blick wahr, und sie konnte nicht begreifen, wie es dazu hatte kommen können, wie das alles so plötzlich geschehen konnte. Dieser kurze Augenblick hatte alles verändert, und mit einem Mal zitterte sie wie Espenlaub, und alles juckte, als würden
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