The New Dead: Die Zombie-Anthologie
sei, dass er so viel habe. „Unfair“! Zum ersten Mal, seitdem wir uns begegnet sind, erlischt sein Lächeln. Ich habe nicht einen einzigen Familienangehörigen verloren. Das meine ich ernst. Wir haben alle überlebt. Ich konnte mir ausmalen, was kommen würde, „zählte zwei und zwei zusammen“, wie die Amerikaner so schön sagen. Was ich wusste, reichte aus, um mein Haus zu verkaufen und die Dinge zu kaufen, die man zum Überleben braucht, und ich brachte meine Familie sechs Monate, bevor die Panik ausbrach, nach Svalbard. Meine Frau, unser Sohn, unsere beiden Töchter, mein Bruder und seine ganze Familie, sie sind alle noch am Leben – mit drei Enkelkindern und fünf Großnichten und -neffen. Meinen Freund, der „so viel“ hatte, habe ich im letzten Monat behandelt. Man nennt es „Reichen-Syndrom“, weil das Leben selber der neue Reichtum ist. Vielleicht sollte man es die „Reichen-Scham“ nennen, da aus irgendeinem Grunde Leute wie wir fast nie darüber sprechen. Nicht einmal untereinander. Einmal war ich mit Ingvilde in ihrer Werkstatt verabredet. Sie hatte ein Bild auf ihrem Tisch und kehrte mir den Rücken zu, als ich hereinkam. Ich hatte nicht geklopft, überraschte sie also ein wenig. Sie drehte das Bild sofort mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch, noch bevor sie wusste, dass ich es war. Instinktiv. Aus Schuldgefühl. Aus Scham. Ich habe nicht gefragt, wer das auf dem Bild war.
Wir bleiben vor dem letzten Abteil stehen. Neben der Luke hängt ein Klemmbrett mit einem weiteren Haftungsausschluss am Schott. Kierstedt sieht erst das Klemmbrett, dann mich an. Sein Blick ist voller Unbehagen .
Es tut mir leid. Ich weiß, dass Sie bereits einmal unterschrieben haben, aber weil Sie kein EU-Bürger sind, schreiben die Bestimmungenvor, dass Sie sich das Formular erneut durchlesen und es noch einmal unterschreiben. Das ist wirklich nervig, und wenn es nach mir ginge, würde ich Ihnen erlauben, einfach zu unterschreiben, aber … Sein Blick huscht kurz zu der Überwachungskamera, die oben an der Decke angebracht ist.
Ich tue so, als würde ich lesen. Kiersted stößt einen Seufzer aus.
Ich weiß, dass eine Menge Leute mit dem, was wir hier tun, nicht einverstanden sind. Sie halten es für unmoralisch oder zumindest für sinnlos. Ich verstehe das. Für die meisten von denen ist Nichtwissen ein Geschenk. Es schützt sie und gibt ihnen Antrieb. Sie nutzen diese Ahnungslosigkeit, um ihr Leben fortzuführen, ihre seelische und körperliche Gesundheit wiederherzustellen, weil sie vorbereitet sein wollen, wenn eines Tages die vermisste Person plötzlich zur Tür hereinkommt. Für sie bedeutet dieser Schwebezustand Hoffnung, und manchmal ist ein Abschluss das Ende der Hoffnung.
Doch was ist mit den anderen Überlebenden, jenen, die dieser Schwebezustand lähmt? Das sind diejenigen, die ohne Unterlass Ruinen und Massengräber durchsuchen und nie enden wollende Listen studieren. Sie sind Überlebende, die die Wahrheit der Hoffnung vorziehen, aber ohne einen konkreten Beweis dieser Wahrheit nicht weitermachen können. Was wir hier bieten, ist natürlich nicht die Wahrheit, und das wissen sie auch tief in ihrem Innern. Aber sie glauben es, weil sie es glauben wollen, genau wie jene, die in die Leere schauen und Hoffnung sehen.
Ich fülle die letzte Seite des Formulars aus. Kiersted greift nach seiner Schlüsselkarte .
Übrigens haben wir ein psychologisches Profil der Personen anlegen können, die unsere Hilfe suchen. Sie sind vom Charakter her offensiv, also aktiv, entscheidungsfreudig, gewohnt, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Er wirft mir einen kurzen Seitenblick zu . Das ist natürlich eine starke Verallgemeinerung, aber für viele von ihnen war der schlimmste Moment, als sie die Kontrolle verloren. Dieser Vorgang hier hat genauso viel mit dem Zurückgewinnen dieser Kontrolle zu tun wie mit dem Abschiednehmen.
Kiersted zieht seine Karte durch das Lesegerät, das Licht am Schloss springt von Rot auf Grün, und die Tür öffnet sich. Das Abteil, in das ich nun trete, riecht nach Salbei und Eukalyptus, und das Rauschenvon Wellen dringt aus den am Schott angebrachten Lautsprechern. Ich starre die Gestalt vor mir an. Sie starrt zurück. Sie zerrt an ihren Fesseln, versucht, auf mich loszugehen. Der Kiefer klappt auf. Das Wesen stöhnt.
Ich weiß nicht, wie lange ich die „Zielperson“ vor mir anstarre. Schließlich drehe ich mich zu Kiersted um, nicke zustimmend und bemerke, dass das Lächeln auf sein
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