The Stand. Das letze Gefecht
Ebensogut konnte man eine Frau fragen, warum sie ein behindertes Kind zur Welt gebracht hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, eine Stunde oder einen Augenblick, als er daran gedacht hatte, den Haß über Bord zu werfen. Das war gewesen, als er Frannies Tagebuch gelesen und erfahren hatte, dass sie unwiderruflich Stu Redman verfallen war. Diese plötzliche Erkenntnis hatte auf ihn gewirkt wie ein kalter Wasserguß auf eine Schnecke, die zur kleinen Kugel wird statt zum ausgebreiteten, tastenden Organismus. In dieser Stunde oder in diesem Augenblick hatte er gewußt, daß er einfach akzeptieren konnte, was war , und dieses Wissen hatte ihn entzückt und entsetzt zugleich. In dieser Zeitspanne hatte er gewußt, daß er sich in einen anderen Menschen verwandeln konnte, in einen neuen Harold Lauder, der durch das scharfe Skalpell der Supergrippe aus dem alten geklont worden war.
Er begriff deutlicher als die anderen, daß es in der Freien Zone Boulder genau darum ging. Die Leute waren anders, als sie gewesen waren. Die Gesellschaft dieser kleinen Stadt war mit keiner anderen amerikanischen Gesellschaft vor der Seuche vergleichbar. Sie sahen das nicht, weil sie nicht wie er außerhalb der Grenzen standen. Männer und Frauen lebten offensichtlich ohne den Wunsch zusammen, die Institution Ehe wieder einzuführen. Ganze Gruppen lebten in kleinen Untergruppen wie in Kommunen zusammen. Es gab wenig Streit. Die Leute schienen miteinander auszukommen. Und, am seltsamsten, keiner schien die tiefe religiöse Bedeutung der Träume zu erkennen... und der Seuche selbst. Boulder selbst war eine geklonte Gesellschaft, eine Tabula , die so rasa war, daß sie die neugewonnene Schönheit nicht empfanden.
Harold empfand sie, und er haßte sie.
Weit drüben hinter den Bergen war noch eine geklonte Kreatur. Ein Stück der dunklen Bösartigkeit, eine Krebszelle aus dem sterbenden Leib der alten Gesellschaft, ein einsamer Vertreter des Karzinoms, das die alte Gesellschaft bei lebendigem Leibe gefressen hatte. Eine einzige Zelle, die aber schon angefangen hatte, sich zu reproduzieren und weitere wilde Zellen zu erzeugen. Für die Gesellschaft bedeutete das den alten Kampf, das Bemühen des gesunden Gewebes, den bösartigen Eindringling abzuwehren. Aber für jede individuelle Zelle stellte sich die alte, alte Frage, die bis zum Garten Eden zurückreichte - aß man den Apfel oder ließ man es sein? Dort drüben, im Westen, aßen sie bereits Unmengen Apfelkuchen und Apfelkompott. Die Assassinen von Eden waren da, die dunklen Füsiliere.
Und er selbst hatte im Angesicht des Wissens, daß es ihm freistand zu akzeptieren, was war , die neue Chance für eine menschliche Gesellschaft abgelehnt. Sie zu ergreifen, wäre gleichbedeutend mit Selbstmord gewesen. Die Gespenster aller Demütigungen, die er je erlitten hatte, bäumten sich dagegen auf. Seine gemordeten Träume und Ambitionen lebten auf unheimliche Weise wieder auf und fragten, ob er sie wirklich so einfach vergessen konnte. In der neuen Gesellschaft der Freien Zone konnte er nur Harold Lauder sein. Dort drüben aber ein Prinz.
Das Bösartige lockte ihn. Es war ein dunkler Jahrmarkt - Riesenräder mit ausgeschaltetem Licht, die sich über einer schwarzen Landschaft drehten, ein niemals endender Zirkus mit Freaks wie ihm, und im Hauptzelt fraßen die Löwen die Zuschauer. Die mißtönende Musik des Chaos sprach ihn an.
Er schlug sein Tagebuch auf und schrieb im Licht der Sterne mit fester Hand.
16. August 1990 (frühmorgens).
Es heißt, die beiden großen Sünden der Menschheit seien Stolz und Haß. Wirklich? Ich ziehe es vor, beide für große Tugenden zu halten. Auf Haß und Stolz verzichten hieße, sich zugunsten der Welt zu verändern. Edler ist es, wenn ich sie mir zu eigen mache und ihnen freien Lauf lasse, denn dann muß sich die Welt zu meinen Gunsten verändern. Das Leben ist ein großes Abenteuer.
HAROLD EMERY LAUDER
Er schlug das Buch zu. Er ging ins Haus, legte das Buch in sein Loch im Kamin zurück und brachte sorgfältig den Stein wieder an. Er ging ins Bad, stellte die Coleman-Lampe so aufs Waschbecken, daß sie in den Spiegel leuchtete, und übte die nächsten fünfzehn Minuten lang zu lächeln. Er war schon ziemlich gut.
51
Ralphs Plakate, die die Versammlung am 18. August ankündigten, hingen überall in Boulder. Es gab erregte Diskussionen, bei denen es hauptsächlich um die guten und schlechten Eigenschaften der sieben Mitglieder des Ad-hoc-Komitees
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