The Walking Dead: Roman (German Edition)
an. Seine Socken sind durchlöchert, sein großer Zeh lugt hervor. Der Anblick des großen Onkels in dem flackernden Licht – der Nagel hat auch schon bessere Tage gesehen –, bricht Brian erneut fast das Herz. Irgendwie lässt der Zeh seinen Bruder – vielleicht zum ersten Mal überhaupt – verwundbar erscheinen. Ohne Philip würden sie allerdings wohl kaum mehr am Leben sein. Brian versucht also seine Gefühle runterzuschlucken.
»Ich bin dein Bruder, Philip.«
»Ach was.«
»Was ich damit sagen will … Ich verurteile dich nicht. Und werde es auch niemals tun.«
»Und?«
»Und … Ich finde es toll, was du für uns tust … Wie du dein Leben für uns auf Spiel setzt. Ich will nur, dass du Folgendes weißt: Ich rechne dir das hoch an.«
Philip antwortet nicht, starrt aber jetzt nicht mehr ganz so verkrampft ins Feuer wie zuvor. Stattdessen scheint er hinter sie zu blicken. Die Flammen lassen seine Augen geheimnisvoll funkeln.
»Ich weiß, dass du ein guter Mensch bist«, redet Brian weiter. »Das weiß ich.« Er hält einen Augenblick lang inne. »Und ich weiß, dass dich etwas auffrisst.«
»Brian …«
»Lass mich ausreden.« Die Unterhaltung hat jetzt einen Punkt überschritten, nach dem es kein Zurück mehr gibt. »Wenn du mir nicht beichten willst, was zwischen dir und April passiert ist, habe ich damit kein Problem. Ich werde dich nie wieder danach fragen.« Es folgt eine noch längere Pause. »Aber du kannst es mir erzählen, Philip. Du kannst es mir erzählen, weil ich dein Bruder bin.«
Endlich wendet sich Philip vom Feuer ab und mustert seinen Bruder. Eine Träne läuft über sein markantes Gesicht, und Brians Magen verkrampft sich bei dem Anblick. Er kann sich nicht daran erinnern, Philip jemals weinen gesehen zu haben – selbst als Kind nicht. Einmal verprügelte ihr Vater den zwölfjährigen Philip erbarmungslos mit einer Haselnussrute. Die Striemen auf Rücken und Po ließen ihn die die ganze Nacht auf dem Bauch schlafen. Aber er vergoss auch damals keine Träne. Er tat es aus reinem Trotz nicht. Doch jetzt, da er in Brians Augen blickt, klingt seine Stimme tonlos, als er seinem Bruder sein Herz öffnet. »Ich habe Mist gebaut, Junge.«
Brian nickt, sagt aber nichts. Er wartet. Das Feuer prasselt leise.
Philip schaut auf den Boden. »Ich glaube, ich habe mich in sie verknallt.« Eine Träne tropft von seinem Kinn. Seine Stimme bleibt weiterhin tonlos und leise. »Ich will nicht behaupten, dass es Liebe war, aber was ist schon Liebe? Liebe ist eine Krankheit.« Er schüttelt sich, als ob ihn ein Dämon in seinem Inneren quälen würde. »Ich habe es zerstört, Brian. Aus uns hätte etwas werden können, etwas Solides. Du weißt schon – für Penny und so. Etwas Gutes.« Er verzieht das Gesicht, als ob er eine Woge der Traurigkeit zurückhalten müsste. Tränen steigen ihm bei jedem Blinzeln in die Augen und rinnen ihm übers Gesicht. »Ich konnte nicht mehr an mich halten. Sie hat mich gebeten, aber ich konnte nicht. Verstehst du … Die Sache ist so … Es hat sich so verdammt gut angefühlt.« Jetzt fließen die Tränen in Strömen. »Selbst als sie mich weggedrückt hat, fühlte es sich noch immer wahnsinnig gut an.« Stille. »Was ist nur mit mir los?« Stille. »Ich weiß, dass es dafür keine Entschuldigung gibt.« Schweigen. »Ich bin nicht blöd … Ich kann nur nicht glauben, dass ich je … Ich hätte nie und nimmer gedacht, dass ich so was in mir habe … Ich habe keine Ahnung gehabt …«
Seine Stimme versagt, und um sie herum gibt es nur noch das Prasseln des Feuers und die Dunkelheit um das Haus. Nach einer halben Ewigkeit hebt Philip endlich den Blick und schaut seinen Bruder an.
In dem tanzenden Licht der Flammen sieht Brian, dass Philip nicht mehr weinen kann. Sein Gesicht ist von echter Verzweiflung gezeichnet. Brian sagt noch immer kein Wort, sondern nickt nur stumm.
Es ist inzwischen Anfang November. Sie warten ab, um zu sehen, was das Wetter macht.
Ein eiskalter Schneeregen fegt eines Morgens über die Obstplantage. Wenige Tage später legt sich der Frost über die Felder und verdirbt die übrig gebliebenen Früchte an den Bäumen. Obwohl sich der Winter in großen Schritten nähert, machen sie keine Anstalten, die Villa zu verlassen. Schließlich ist hier ihre beste Chance, die bevorstehende harte Zeit zu überleben. Sie haben genügend konservierte Lebensmittel, um sich mit etwas Umsicht monatelang über Wasser zu halten. Holz ist auch da, um
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