Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
heiligmäßigen Tochter Lilo – wer mochte so einen Traum haben, vielleicht war es Onkel Edi, Säufer, Gentry aus eigenen Gnaden, Herrscher im Auftrag der Anglo-Danubia über die Gebiete südlich der Drau und der Save.
Nein, Eduard Kranz hätte es anders geträumt, handfester, deftiger, ordinärer, und vor allem mit einer anderen Pointe. Wenn es der Traum des Onkel Edi gewesen wäre, dann hätte Helene noch gelebt, eine welke Helene, hin und her pendelnd zwischen Altersgram und Lebenslust, Helene hätte keinen Mann gehabt (Wallach wäre gefallen, auch im Traum), sondern einen Liebhaber, einen jungen Eisenbahner, der in voller Uniform vor ihrer Türe stand, im langen Mantel wie ein Baum, anklopfte, nächtlich, zärtlich, ausdauernd, wie ein Ast im Wind an eine Fensterscheibe schlägt, eintrat, und dann hätte, im Traum des Onkel Edi, der Eisenbahner mit Helene und natürlich mit Eduard Kranz (der nur auf einen Sprung vorbeigekommen wäre, um ein oder zehn Schlückchen frisch gebrannten Obstschnapses zu kosten) eine gute Stunde gehabt bei Schnaps, Speck und Brot, der Eisenbahner hätte Geschichten erzählt, „Wie war das noch in Attnang“, hätte er gesagt, oder „Na ja, pieckfein oder nicht, die Fahrkarte muss her“, und Helene hätte gelacht, und endlich hätte Onkel Edi den beiden viel Glück gewünscht und eine gute Nacht, er hätte gesagt, er müsse hinaus an die frische Luft, am besten, er ginge jetzt mit Lilo ein wenig spazieren, mit Lilo, denn auch sie wäre da gesessen, wild, angespannt, eingeschlossen in ihre Kindheit, und später, während des Spazierganges, zwischen dem Schweinestall und dem Taubenschlag, beim Betrachten der Sterne, wäre es dann geschehen: die erste Küsserei und das bebende Hineingleiten einer Jungmädchenbrust in die fest streichelnde Männerhand. Richard Kranz lag da, fieberte, fror, brannte, sah den Traum des Onkel Edi nicht mehr, hörte aber plötzlich seine Stimme. „Zwischen dem Schweinestall und dem Taubenschlag“, sagte Onkel Edi – undwann war das nur gewesen, in welchem Thennberger Sommer –, „beim Betrachten der Sterne, und dann ins Stroh. Wissen Sie, Baron, Stroh ist nicht gut für die Haut der Damen, aber noch immer besser als Heu. Am nächsten Morgen, beim Abschied“, sagte Onkel Edis Stimme, „stand sie zwischen dem Gemüsegarten und dem Plumpsklo, mit ihren gutmütigen, vernebelten Augen hat sie ausgesehen wie eine satte Kuh.“ Onkel Edi lachte, Richard Kranz hörte nichts mehr, er sah plötzlich sich selbst.
Er war in der Küche gestanden, zum Ausgehen bereit, und Lilo hatte sich die Tücher um den Kopf gebunden. Was aber wird Ihr Vater dazu sagen, hatte er gesagt, Richard Kranz, und was werden Sie Ihrem Vater antworten, wenn er Sie fragt, wo Sie die ganze Zeit gewesen sind, Thennberg ist ja klein, viel zu klein, entweder sind Sie bei Frau Mohaupt gewesen oder bei einer Freundin, oder bei Hochwürden Horowitz, was werden Sie ihm dann sagen? Aber während er das gefragt hatte, war ihm gewesen, als fragte ein anderer aus seinem Mund, so etwas erfragte man doch nicht von einem jungen Mädchen, das man liebte, es würde die Antwort schon finden, frech und listig, man hat in diesem Stück nicht die Rolle des Fragenden bekommen, sondern die Rolle des Helden, und dieser hat nicht zu fragen, sondern zu handeln; Held, na und, was ist das schon, so ein Held zu sein, der SS-Mann Strobl war für sich selber auch ein Held gewesen, und der junge Russe, der Adalbert Friedländer erschossen hatte, war ebenfalls ein Held; es kam gar nicht darauf an, ein Held zu sein, sondern darauf, endlich fragen zu dürfen, ja fragen. Das Gehorchen roch nach durchschwitzten Fußlappen, nach leeren Mägen, aus denen der Dunst des Magensaftes durch zahnlose Münder herausquillt, nach eiternden Wunden, zum Überfließen vollen Latrinen, nach kaltem Metall, nach Fäulnis, aber das Fragen duftete wie der Kuchen voller Rosinen auf dem Geburtstagstisch, wie die roten Spannteppiche, die mit Gobelin bespannten Sitzgarnituren, die pastellfarbenen Tapeten eines guten Restaurants, wie zu Hause in Wien die innerste Innenstadt nach Weihnachten, wenn die vielen umherhastenden Leute verschwunden sind und eine zart parfümierte Dame in ihrem leichten Pelz, mit einem Päckchen, das an einer Schnur am behandschuhten kleinen Finger baumelt, aus der Konditorei Demel auf den Kohlmarkt hinaustritt und im Torten- und Kaffeegeruch für einen Augenblick wie ratlos noch stehenbleibt. Fragen zu dürfen, das war der
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