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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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genau, wo er lag, in wessen Haus und in wessen Bett, es war still um ihn, Nachmittagslicht, er sah Jesus Christus im weißen Hemd und blauen Überwurf auf dem Ölberg bei Mondschein, der Öldruck hing über seinem Kopf, sehen konnte er ihn nicht und sah ihn trotzdem, nicht das Bild, sondern den bärtigen jungen Mann mit den melancholischen Augen, der Reif des Heiligenscheins schwebte über seinem Kopf, zu diesem bärtigen jungen Mann hatte er einmal gebetet, in der Kirche Maria am Gestade, in anderen Kirchen, und nun wusste er nicht mehr, worum er damals gebeten und mit welchen Worten er gebetet hatte. Er wusste auch nicht, ob er immer noch dalag, nach jener ersten und zweiten und wollüstig dritten Berührung mit dem kühlen, weichen, sauberen Bettzeug, oder ob er nach dem ersten Schlaf das Bett wieder verlassen hatte, ob er aufgestanden war, um in Thennberg umherzugehen, die Frau des Erich Mohaupt in der Apotheke zu besuchen und dann Hochwürden Horowitz im Pfarramt und dann das Schloss und dann wieder das Schloss; die Treppe hatte zum Dachboden geführt, eine Wendeltreppe ohne Fenster, an eine braune Tür, hinter der lag die Wohnung der Tante Paula.
    Unwahrscheinlich war das alles, unwirklich, Albtraum, Wunschtraum, eine einzige Minute der Einbildung vielleicht, eine Halluzination. Was hatte er denn, er, Richard Kranz, in einem Lager zu suchen gehabt, in einem Konzentrationslager unter wildfremden Menschen, wieso hatte er alles ertragen, wieso überleben können, wieso war er gerade zuletzt in einem Kazet, von dem man Thennbergzu Fuß hatte erreichen können, Thennberg, Sommerfrische, Ferien, das Automobil war vor dem Haustor stehengeblieben, die Koffer und die Reisetaschen waren verstaut worden, Richard Kranz war im milde nach Katzendreck riechenden kühlen Gewölbe des Haustors gestanden, hatte hinausgesehen auf den staubigen Asphalt, einen Anzug aus weißer Rohseide hatte er damals getragen mit großen Knöpfen aus Perlmutt, weiße Kniestrümpfe, weiße Schuhe, auf dem Kopf einen runden weißen Leinenhut, man war dann losgefahren, hinter Hietzing oder Sankt Veit war ein Märchenwald gelegen, hinter den Bäumen des Lainzer Tiergartens waren Rehe über die Lichtungen gelaufen, aber man hatte sie niemals genau sehen können, auch der Lainzer Tiergarten war bereits Thennberg gewesen, die Wiesen und Dörfer, Bäche und Brücken, Bäume und Kilometersteine, sie alle hatten zu Thennberg gehört, die Wiesen immer grün und gelb, die Dörfer immer hell, ausgestorben, staubig, die Bäche immer schmal, kleine Rinnen, die Brücken immer viel zu lang über wenig Wasser und viel Schutt und Geröll und Gebüsch, die Bäume voll dicker saftiger Blätter, die Kilometersteine immer weiß gekalkt, gelblich im Sonnenlicht, und irgendwann war man dann angekommen unter den Platanen vor dem Schloss, am Lainzer Tiergarten hatte der Sommer begonnen, und wenn man im Schloss das erste Mal aufgewacht war, war man mitten im Sommer gewesen; und wieso war gerade dieser Sommer in der Nähe des Konzentrationslagers liegengeblieben, konserviert, eine Flasche voll Pfirsichkompott, die jemand vergessen hatte, man konnte die Flasche wieder öffnen, unddie Pfirsiche hatten ihren Duft nicht verloren und nicht ihren Geschmack, da waren sie wieder, schaukelten im Sirup, Fische in einem Aquarium, helle Körper im dämmrigen Graugrün des Schattens, der Körper der Helene Wallach, dann ein anderer Körper, ein Mädchen, Lilo, da lag sie, im Bett der Tante Paula, hell, schmal, weißblond, zwinkerte mit den Augen, wieso war es keine andere gewesen, gerade sie – das alles war ja viel zu vernünftig, oder viel zu unvernünftig, viel zu schön, um wahr zu sein, oder viel zu entsetzlich, vielleicht war das alles nicht wirklich geschehen, vielleicht war es bloß eine Halluzination gewesen, der wirkliche Richard Kranz war ein kleiner Junge, noch nicht vierzehn, ein frühreifer Knabe, er lag in seinem Bett, im Kinderzimmer, im Haus in der Bräunerstraße, wollte nicht in die Schule gehen, träumte, um nicht aufstehen zu müssen, hatte einen kurzen Traum, oder vielleicht war das der Traum eines anderen: Irgend jemand lag irgendwo in irgendeiner Nacht, träumte, er sei Richard Kranz, Sommerkind in Thennberg, erst Christ und dann Jude, Kazetler, war aus dem Kazet lebend herausgegangen, war wieder Christ geworden, war hineingewandert in den Thennberger Sommer, war zurückgekehrt in das Schloss, hatte die heilige Helene wiedergefunden in Gestalt ihrer

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